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Zorn: Thriller (German Edition)

Zorn: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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einem pechschwarzen Fluss umhertorkeln, den Gott vergessen hat? Wieso sollte das auch nur für einen einzigen Menschen gut sein?
    In diesem Augenblick trifft er eine Entscheidung. Er beschließt, dass er, falls er überleben sollte, falls er entgegen allen Erwartungen diese verdammte Kannibaleninsel lebend verlassen sollte, dieser großen Frage nach dem Warum nachgehen wird.
    Also, Überblick verschaffen. Die Landzunge diesseits des Waldrandes. Der groteske Mehlberg, der auf der anderen Seite der Insel aufragt. Die wenigen Uniformierten, die so verängstigt wirken. Die Gesundheitsoffiziere mit ihren spärlichen Krankenzelten. Die Kette der Aufseher um sie herum, bewaffnete Obdachlose mit mörderischen Blicken, die man in den dunklen Spelunken der Kleinstädte aufgegriffen hat. Absolut unzuverlässig. Dann der Waldrand. Dahinter befinden sich die Leichenhaufen. Und dort sind sie – die Menschenfresser.
    Keiner, dem er sich anschließen könnte. Absolut keiner. Diejenigen, die nicht bedrohlich wirken, sind mögliche Opfer. Dedas einzige Hoffnung besteht darin, dass er noch zu klein ist. Dass an seinen Knochen nicht viel dran ist.
    Dank Großmutter ist Deda wärmer angezogen als die meisten anderen. Aber das stellt wiederum schon ein Risiko dar. Er meint, immer wieder schiefe Blicke auf seine wärmende Jacke zu spüren. Selbst auf seine warmen Stiefel, die sowieso keinem passen würden.
    Doch rationale Argumente haben auf der Insel nichts verloren. Seine Schuhe sehen warm aus. Punktum.
    Begleitet von dem ewigen Wimmern, driftet er zwischen den Gruppen hin und her. Findet keinen Ort, wo er kurz ausruhen könnte. Merkt, dass es am besten ist, in Bewegung zu bleiben.Dennoch traut er sich nicht, die Landzunge zu verlassen und in den Wald zu gehen. Oder auch nur am Ufer entlangzulaufen. Denn dort halten sich die Verzweifelten auf. Diejenigen, die daran glauben, fliehen zu können. Diejenigen, die im eiskalten Wasser herumwaten und Strandgut und angeschwemmte Hölzer sammeln, um Flöße zu bauen. Keiner beachtet sie weiter. Deda traut ihnen nicht, denn ihre Blicke sind bereits vom Tode gezeichnet.
    Doch das ist noch gar nichts gegen den Wald und die Menschen dort drinnen. Manchmal kommen sie an den Waldrand und sehen sich um. Sie wirken, als wären sie keine Menschen mehr. In ihren Augen liegt der Blick eines wilden Tieres. Eine Furcht einflößende animalische Intensität. Deda kann sie nicht deuten, aber er erkennt sie. Er hat seine eigene Regel, um ihnen auszuweichen: Sich keinem zuwenden, keinem trauen, keinem vertrauen. Allein sein. Schnell sein.
    Es ist schwer, schnell zu sein, wenn man ausgehungert ist. Der Hunger nagt immer stärker an ihm. Inzwischen hat es aufgehört zu schneien, weshalb es nun nicht einmal mehr Wasser gibt.
    Während er unten über die Landzunge am Ufer entlangwandert, fragt er sich erneut, warum sie hier sind. Auf dieser Insel kann doch nicht ernsthaft Endstation für sie sein. Diejenigen, die sie hierher geschafft haben, wissen doch, dass hier niemand leben kann. Hier gibt es nichts, absolut nichts. Außer dem Tod.
    Dann hätten sie die Gefangenen auch gleich erschießen können.
    Das Ganze erscheint ihm wie ein Versehen. Ein übles Versehen. Als hätte irgendjemand irgendeine Idee gehabt, die nicht mit der Realität vereinbar ist. In dem Fall muss der Fehler doch auch wieder behoben werden. Man wird sie wieder abholen. Also ist der Aufenthalt hier zeitlich begrenzt, und es gibt einen Schlusspunkt. Irgendwer ist sicher schon auf dem Weg hierher. Man muss also nur bis zu seinem Eintreffen durchhalten.
    Der Gedanke verleiht ihm neue Kraft. Man wird sie abholen. Es gibt Krankenzelte – was auch immer sich in ihnen befinden mag –, es gibt Offiziere, Aufseher, es gibt einen Mehlberg. Die Sache ist schiefgegangen, aber es war nicht geplant, dass sie hier sterben.
    Diese Hölle dauert nicht unendlich lange.
    Also gilt es zu überleben. Das ist alles. So lange zu überleben, bis sie kommen und ihn abholen.
    Es ist die glasklare Logik des Zehnjährigen, die ihn weitertreibt und dazu bringt, am Ufer entlangzuwandern, auch wenn er sich dadurch von der Menge entfernt, in der er sich etwas sicherer gefühlt hat.
    Doch er fühlt sich sowieso nicht mehr sicher. Es gibt niemanden, dem er trauen kann. Jetzt geht es nur noch darum durchzuhalten.
    Er läuft zum östlichen Ufer. Weg. Doch da sieht er es.
    Er sieht, wie der Mann aus dem Wald herauskommt, umgeben von seinen Freunden, von seiner Gang. Die brutale

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