Zorn: Thriller (German Edition)
die Zweige wieder über die Quelle, bemüht, alles unberührt aussehen zu lassen. Und dennoch muss er selbst sie wiederfinden können. Er sucht nach einer Möglichkeit, einem Zeichen, das nur er und kein anderer entschlüsseln kann. Er findet einen kleinen Ast, der wie ein Y geformt ist, und schiebt ihn zwischen die übrigen Zweige, bis er stabil steht. Das muss als Zeichen genügen.
Dann setzt er seine endlose Wanderung im Niemandsland fort, mit hellwachen Sinnen. Jeden Moment könnte sich ein Raubtierblick auf ihn richten, das weiß er, es ist ihm die ganze Zeit über bewusst. Noch nie kam ihm das Leben so zerbrechlich vor.
Da erblickt er etwas. Stofffetzen, die in einem Baum hängen. Zuerst sind es lediglich Fetzen. Zusammengeknotet und wie Bündel aufgehängt in einem düsteren Pappelhain. Er erkennt den Stoff wieder, kann ihn jedoch nicht zuordnen. Erst als er näher kommt, begreift er, dass hier einige der Jutesäcke hängen, in denen das Mehl transportiert wurde, bevor es auf einem großen Haufen landete. Doch irgendetwas ist in den Säcken. Durch den groben Stoff drückt sich langsam etwas hindurch. Eine zäh fließende Flüssigkeit dringt aus den Bündeln heraus.
Als er später, unten in der Höhle, mehr Zeit zum Nachdenken hat, als ihm guttut, wundert er sich darüber, wie lange er dort bei den Pappeln gebraucht hat, um zu registrieren, dass das, was sich durch die groben Jutefasern presste, Blut war. Doch die nächste Tatsache registriert und begreift er umso schneller.
Aus einem der Stoffbündel lugt ein anderer Stoff hervor, der etwas zerknittert, aber bedeutend edler ist. Und hellgrün.
Deda weicht instinktiv zurück. Macht einige rasche, taumelnde Schritte. Und fällt. Haltlos stürzt er rücklings durch ein Bett aus Zweigen. Und bleibt liegen. Aber nicht wegen des Schmerzes im Rücken. Auch nicht wegen des Anblicks der gleichmäßig grauen, unendlichen Teilnahmslosigkeit des Himmelsauges. Es ist nicht einmal die Einsicht, woher er diesen hellgrünen Stoff kennt, die ihn am Boden hält. Es ist etwas anderes. Es ist die Mischung aus Angst und Hoffnung, die ihn zu Stein erstarren lässt.
Als er hinfiel und die Zweige zerbrachen, verursachte das Geräusche. Vermutlich schrie er auch auf. Nun liegt er stocksteif da, und alles, was er jetzt sieht, ist das graue Weltall, eingegrenzt von den Rändern einer Grube. Er liegt in einem Loch, das ihm als Höhle dienen könnte. Ein Versteck. Wenn nur nicht die Raubtierblicke über den Rand lugen, angelockt vom Geräusch eines so leicht zu packenden Beutetiers. Ein Beutetier in der Falle. Man muss es nur noch in Stücke reißen. In Jute einwickeln und als Essensvorrat in die Pappeln hängen. Wiedervereint mit Faina. Neben den Resten ihres hellgrünen Kleids hängend. Den Resten ihrer Leiche.
Deda wartet. Sein Blickfeld ist kreisrund. Und jeden Moment kann sich ein Raubtiergesicht über den Rand schieben.
Deda wartet auf den Tod oder das Überleben, während im Hier und Jetzt jemand auf ähnliche Weise in einem modernen Hotelzimmer wartet. Derjenige weiß nicht mehr, wie die Fahrt auf die Insel verlief. Als Letztes erinnert er sich an die kalte Berührung, die flüchtige Bekanntschaft der Fingerspitzen mit der kühlen Haut des Delfins. An die Stunden danach existiert nicht das geringste Erinnerungsfragment. Erst jetzt, im Nachhinein, zeichnet sich ein Bild des Hotelbesitzers ab. Glatzköpfig. Ein plötzliches Blitzlicht fängt den Pappelhain ein. Den Waldrand. Den Raubtierblick des Glatzköpfigen.
Nein. Jetzt ist es vorbei. Für den Moment. Die Bilder sind verschwunden. Obwohl sie nie vollständig verschwinden werden. Es geht darum. das zu sehen, was Deda gesehen hat. Das zu spüren, was er gespürt hat. Die ganze Zeit über.
Das Hotelzimmer wirkt spartanisch. Auf dem kleinen Schreibtisch liegt eine Touristenbroschüre mit einer wenig detaillierten Landkarte. Sie bleibt hier liegen. Es ist keine Landkarte nötig. Die Sache ist gut vorbereitet. Wie immer.
Es ist die Zukunft, die geplant werden muss. Fünf Tage intensive Planung.
Erneut hängt eine Tüllgardine vor dem Fenster, und die Hand, die sie zur Seite schiebt, zittert nicht mehr. Zwei deutlich voneinander getrennte Orte zeichnen sich vor dem offenen Meer ab. Die Wasseroberfläche kräuselt sich leicht angesichts einer sacht zunehmenden Brise.
Wieder breitet sich die Eiseskälte aus, der unkontrollierbare Schmerz geht in einen kontrollierbaren Genuss über. Die Tasche wird ausgepackt, das Etui. Ein
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