Zorn: Thriller (German Edition)
Obduktionsprotokoll ist von einer Schrumpfleber die Rede.«
Bouhaddi und Kowalewski drehten sich um und blickten in Navarros unbewegtes Gesicht. Bis dieser verdeutlichte: »Leberzirrhose. Apropos Alkoholismus.«
»Danke«, sagte Bouhaddi. »Gut, dann ist das also bestätigt.«
»Vor zwei Jahren stand ein Artikel über das aufstrebende Ehepaar Massicotte in der Nouvelle Gazette «, informierte Kowalewski, mit dem Gesicht unmittelbar am Bildschirm klebend.
»Bist du etwa kurzsichtig?«, fragte Bouhaddi.
»Ich warte darauf, dass die Altersweitsichtigkeit es wieder ausgleicht«, entgegnete Kowalewski. »So wie die Zeit auch meine Lungen innerhalb eines halben Jahres nach Queens wieder geheilt hat. In der Zeitung steht unter anderem: ›Wir wissen beide, dass wir zusammen alt werden und sterben wollen.‹ Ein gutes Jahr danach, er ist siebenundsechzig, sie vierundsechzig, kommt die Scheidung. Sie hat ihn verlassen. Er hat gesoffen, bis er sich schließlich erhängt hat. Schwierig, da etwas anderes zu sehen.«
»Das Saufen war vielleicht eher die Ursache als der Grund«, meinte Bouhaddi.
»Nicht ganz von der Hand zu weisen«, bestätigte Kowalewski. »Vielleicht war es sowohl die Ursache als auch der Grund und die Situation deshalb nicht länger zu ertragen.«
»Fast zwei Promille im Blut bei Eintritt des Todes«, las Navarro neben ihnen vor. »Eins Komma acht.«
»Im Großen und Ganzen deutet alles in ein und dieselbe Richtung«, erklärte Bouhaddi. »Scheidung, Alkohol, Workaholic-Symptome, Einsamkeit und so weiter.«
»Das erscheint mir allerdings etwas zu konstruiert«, rief Jutta Beyer aus.
Söderstedts Körpertemperatur stieg allein während der minimalen Bewegung, deren es bedurfte, um sich leicht vorzubeugen, markant. Er forderte sie auf: »Führ das näher aus.«
»Es scheint geradezu so, als wäre Massicotte von seinem Schreibtisch aufgestanden und hätte gedacht: ›Man müsste sich mal das Leben nehmen. Das würde einem vielleicht wieder den nötigen Kick geben.‹ Keinerlei Gefühlsregung.«
»Hm«, meinte Söderstedt, »klingt fast nach Sherlock Holmes.«
»Liege ich falsch?«, fragte Jutta Beyer.
»Keine Ahnung«, antwortete Arto Söderstedt und begab sich wieder in seinen Dämmerzustand. »Rede nur weiter.«
Beyer warf ihm einen enttäuschten Blick zu und wandte sich wieder dem Material zu.
»Mit einem kurzen Strick?«, fragte Corine Bouhaddi.
Kowalewski schaute auf. »Kurz?«
»Ja«, antwortete Bouhaddi. »Dabei ist das Ankleidezimmer ein ziemlich hoher Raum. Und der Hocker war auch relativ hoch, eher eine Trittleiter. Man hätte ohne Probleme einen langen Strick benutzen können, um das Leiden zu verringern.«
»Verlangst du jetzt nicht zu viel Rationalität von einem Selbstmörder?«
»Alles andere deutet schließlich auf Rationalität hin«, entgegnete Bouhaddi und zuckte mit den Achseln.
»Jetzt sehe ich es«, rief Jutta Beyer so leise aus, wie sie es vermochte. Denn etwas leise zu äußern war und blieb für sie eine Kunst.
Söderstedts Gelenke tauten erneut auf, diesmal allerdings etwas langsamer.
»Was siehst du?«
»Das Zimmer im Keller«, antwortete Beyer.
»Das musst du näher erklären«, forderte Söderstedt sie auf, während er seinen Nacken dehnte, als hätte er einen langen Winterschlaf gehalten.
»Professor Udo Massicottes Villa war groß«, begann Beyer. »Sie war groß und ziemlich verwahrlost, wenn ich das erste Protokoll richtig gelesen habe. Er selbst war ebenfalls ziemlich heruntergekommen, wenn ich das zweite recht verstehe. Leberzirrhose et cetera. Geschieden, seelisch am Ende. Und die Villa sah dementsprechend aus. Er hatte zwar eine Putzfrau – sie war schließlich diejenige, die ihn gefunden hat –, aber sie hat offenbar keinen besonders guten Job gemacht. Es war überall staubig. Außer in einem Raum. Ein Raum im Keller war sehr sauber.«
»Danke«, sagte Arto Söderstedt und stand auf. »Außerdem hast doch bestimmt du, Jutta, eine Ahnung davon, wie weit es nach Charleroi ist. Übrigens ein absolut unangemessener Wohnort für einen der weltweit führenden Ärzte für plastische Chirurgie. Charleroi ist allgemein bekannt als die hässlichste Stadt der Welt. Es werden sogar spezielle Reisen dorthin angeboten, für Leute, die in Hässlichkeit schwelgen wollen.«
»Gut zweihundert Kilometer«, antwortete Jutta Beyer.
»Das schaffen wir in zwei Stunden, oder?«
»Nicht mit deiner Schrottkarre.«
»Mein Toyota Picnic sehnt sich schon nach einem
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