Zorn: Thriller (German Edition)
zurück und ging dort in Deckung. Balodis und Bouhaddi taten es ihm gleich. In dem Moment sah Hjelm an der Mauerecke Jutta Beyers Gesicht auftauchen. Er signalisierte ihr, näher zu kommen. Geduckt schleichend folgten Söderstedt, Kowalewski und Volkova. Hjelm winkte Vera Volkova zu sich und flüsterte der Gruppe zu: »Die Soldaten liegen dort drinnen, bewusstlos. Das Tor ist offen.«
»Wir müssen hinein«, flüsterte Balodis zurück.
»Ich fürchte, dass du recht hast«, entgegnete Hjelm. »Geht ihr zwei voran, Laima? Ich folge mit Vera als Letzter.«
Balodis und Bouhaddi wechselten rasch einen Blick und nickten. Dann bogen sie um die Ecke und passierten das Tor, unmittelbar gefolgt von Beyer, Kowalewski und Söderstedt, der seine Waffe in der linken Hand hielt. Hjelm legte den Arm um Vera Volkovas Schultern und folgte ihnen.
Sie arbeiteten sich durch den Garten zum Hauptgebäude hinauf, das ungefähr hundert Meter weiter oben am Hang stand. Unterwegs stießen sie auf mehrere bewusstlose Wachmänner, die, halb von Büschen verdeckt, im Gras lagen. Sonst rührte sich nichts; nicht einmal ein Auto oben auf der Landstraße war zu hören. Absolute Stille. Windstille. Fahle Nachmittagssonne.
Es war, als bewegten sie sich nach einer Katastrophe durch die einstige Zivilisation und als könnten sie gerade noch die Körperwärme der letzten Überlebenden in einem sonst verlassen daliegenden Universum spüren. Alles war unheimlich still.
Bis sie ein leises Klicken hörten.
Das Erste, was Paul Hjelm registrierte, waren Balodis’ Hände, die sich zu ihrem Hals hinauftasteten. Danach Beyers erstarrter Gesichtsausdruck und ihre weit aufgerissenen Augen. Bouhaddi, die neben Balodis in die Knie ging.
Als Söderstedt drei Meter vor ihm entfernt haltlos umfiel, spürte Hjelm, wie die Verknüpfung der Synapsen kreuz und quer durch sein Gehirn blitzschnell vonstattenging. Er sah das leidende Gesicht des Wachmanns zwischen den Gitterstäben hängen, er dachte an W, er dachte an »Multigift«, und sogar der Begriff »Jet injector« reihte sich überraschend in die Kette seiner pfeilschnellen Assoziationen ein. Als er spürte, wie sich Vera Volkovas Glieder unter seinem linken Arm entspannten, griff seine rechte Hand bereits in seine Brusttasche. Er riss die Verpackung mit den Zähnen auf, und im selben Moment verspürte er einen lähmenden Schmerz, der seine Kehle erfasste und sich weiterschob. Er stieß eine Spritze mit dem Gegengift in Volkovas Schulter und war bereits dabei, das Bewusstsein zu verlieren, als sich die zweite Injektionsnadel durch seine eigene Jacke hindurchbohrte. Der entsetzliche Schmerz in seiner Kehle ließ nach. Vera Volkovas Glieder stabilisierten sich wieder. Sie begann fürchterlich zu husten.
Hjelm sah Kowalewski vor sich, dessen groß gewachsener Körper sich mit einem Knie und einer Faust auf dem Kiesweg abstützte. Er schaute seinen Chef mit zu Eis erstarrtem Blick an.
Hjelm wusste nicht, was er sagen sollte. Alles, was er hervorbrachte, war: »Es ist nicht tödlich, Marek.«
Dann kippte Kowalewski zur Seite und rührte sich nicht mehr. Sie lagen da wie eine Gruppe Skulpturen, eine Darstellung der Schrecken des Krieges, die eines Callot oder Goya würdig gewesen wäre. Balodis’ und Bouhaddis Körper waren ineinander verschlungen, Beyer war auf Söderstedt gefallen, und Kowalewskis langsam steif werdender Körper behielt seine unnatürlichen Winkel bei.
Vera Volkova hingegen kam auf die Füße. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie atmete angestrengt. Hjelm schloss für einen Moment die Augen und spürte, wie die letzten Reste des lähmenden Schmerzes langsam aus seinem Körper wichen. Nie zuvor war ihm das Leben so zerbrechlich vorgekommen. Er löste seinen Arm von Volkovas Schultern und betrachtete seine Hände. Erstaunlich, wie es seinen kleinen Handmuskeln gelang, exakte Fingerbewegungen auszuführen. Er holte tief Luft und sah Vera Volkova an.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie.
»Können Sie mit einer Schusswaffe umgehen?«
»Ja.«
Hjelm beugte sich hinunter und griff nach Jutta Beyers Pistole. Volkova nahm sie entgegen und entsicherte sie routiniert. Hjelm zog seine eigene Pistole aus dem Achselhalfter. Dann gingen sie auf die Luxusvilla zu.
Noch immer lag eine bedrohliche Stille über dem Anwesen, aber hatte sich die Abendluft nicht ein wenig abgekühlt? Als sie die Veranda erreichten, spürte Paul Hjelm in der Tat, wie eine leichte Brise
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