Zorn: Thriller (German Edition)
’nen Hirnschaden, war’s nicht so, Lasse? Seine Welt stand auf dem Kopf.«
»Neugeborene sehen die Welt verkehrt herum«, sagte die dunkle Stimme. »Das Gehirn muss erst lernen, das Bild richtig herum zu drehen. Aber Agges Gehirn hat das nie gelernt. Ne, verdammt, war es nicht Andi? Das war doch ein und derselbe Typ.«
»Und wie hätte er dann so prima putzen können?«, fragte die Stakkatostimme. »Wenn er wie ’ne verdammte Fledermaus kopfüber hing, um mit dem Staubsauger die Decke zu saugen?«
In diesem Augenblick gelang es dem Ehemann, die Aufmerksamkeit des Barmanns auf sich zu ziehen. Was zur Folge hatte, dass er die Bewegungen hinter seinem Rücken etwas verzögerter registrierte, als er es eigentlich hätte tun sollen.
Es waren hektische Bewegungen, in unterschiedliche Richtungen.
Er registrierte nur, dass sich die Gruppe links von ihm plötzlich in Bewegung setzte. Also drehte er den Kopf, um zu sehen, was geschah. Auch die bulligen Südeuropäer blickten nun zu der anderen Gruppe hinüber, waren jedoch noch so in ihre Diskussion über Frauenhintern vertieft, dass sie nicht angemessen auf das reagieren konnte, was in den nächsten Sekunden geschah.
Die kleineren Männer links vom Tresen rannten los und stürzten hinter dem Rücken des Ehemanns an ihm vorbei. Im Augenwinkel nahm er eine merkwürdige Rockabillyfrisur wahr. Dabei rempelten ihn die Typen derb an, sodass er gegen die Theke prallte. Doch er konnte sich an der Kante festhalten und einen Sturz verhindern. Rechts von ihm ertönte eine ohrenbetäubende Explosion. In dem Moment packte ihn einer aus der Säufergruppe links mit festem Griff am Jackettaufschlag und zog ihn zu sich heran. Der Ehemann sah, wie der Blick des Säufers erlosch, bevor er den zweiten ohrenbetäubenden Knall hörte. Er versuchte sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, der war jedoch eisern.
Als er einen raschen Blick über die Schulter warf, sah er zwei der Südeuropäer zu Boden sinken. Er hörte einen dritten Knall, nicht ganz so laut, denn sein Gehör war mittlerweile geschädigt, und schaute wieder auf den Säufer hinunter. Dessen Augen waren bereits verdreht, sodass nur noch das Weiße sichtbar war. Er vernahm einen röchelnden Atemzug.
Eine Blutkaskade schoss dem Sterbenden aus dem Mund und ergoss sich über das Gesicht des Ehemanns. Der Säufer ließ sein Jackett los und sank reglos zu Boden. Der Ehemann betastete sein eigenes Gesicht, von seinen Fingern troff dunkelrotes Blut.
Er drehte sich erneut zu den Südeuropäern um, doch sein Körper wollte ihm nicht richtig folgen. Seine Füße steckten unter der zusammengesunkenen Leiche des Säufers fest, sodass der Ehemann ins Taumeln geriet, ehe er haltlos zu Boden fiel. Aber sein Blick folgte der Gruppe Südeuropäer. Zwei Männer stürmten wie wild in Richtung Ausgang, während die anderen beiden groß gewachsenen Muskelprotze zu Boden gegangen waren und nun dem gut gekleideten Mann zu Füßen lagen. Der stand mit dem rechten Arm bequem gegen die Theke gelehnt da. Nur hatte er kein Gesicht mehr.
Der Ehemann spürte, wie es in seinem Rücken knackte, als er mit stark verdrehten Beinen zu Boden fiel. Im Fallen schlug er mit der Stirn gegen die Theke, dann sah er nichts mehr.
Doch er hörte zwei Dinge, bevor er das Bewusstsein verlor. Er hörte draußen von der Götgatan her einen Schuss.
Und er hörte seine Ehefrau mit einer Stimme ausrufen, die er nur ansatzweise wiedererkannte: »Aber Viggo!«
Sie bewirkte, dass er sich geradewegs in die Bewusstlosigkeit hineinlächelte.
Viele lose Fäden
Den Haag, 12. Mai
Felipe Navarro hielt im Flur seiner frisch renovierten Dreizimmerwohnung inne. Und da er ein Mann mit festen Gewohnheiten war, bewirkte dieses Innehalten, dass seine Frau Felipa vom Küchentisch aufschaute.
Er drehte sich zu ihr um. »Ich weiß, dass ich es schon oft gesagt habe, Felipa. Aber du strahlst regelrecht.«
»Das hast du noch nie gesagt«, entgegnete Felipa.
Sie sahen einander noch einen Moment an. Dann lächelte sie sanft, und er machte sich auf den Weg.
War Felipas Lächeln auch zuvor schon so sanft gewesen? Er versuchte bereits seit ein paar Monaten auszumachen, ob man tatsächlich allein an ihrer Ausstrahlung einen Unterschied merken konnte. Aber offenbar hatte er ihr das bisher nie gesagt. Wie merkwürdig.
Aber sein Leben war in letzter Zeit eben etwas durcheinandergeraten. Dabei erlebte das ja fast jeder Mensch, und es war ihm eigentlich nie als etwas Besonderes
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