Zorn: Thriller (German Edition)
vorgekommen. Doch als feststand, dass Felipe Navarro Vater werden würde, nahm die Welt andere Farben an. Alles war schärfer, klarer. Und als auf dem Ultraschall erkennbar wurde, dass es ein Sohn werden würde, verspürte er ein Glücksgefühl, das er noch nie im Leben empfunden hatte.
Und dennoch diese Unruhe, die Verwirrtheit. Ein Kind in eine Welt wie diese zu setzen. Er war etwas aus dem inneren Gleichgewicht geraten, und seine Gedanken wanderten während der Autofahrt zum alten Europolgebäude in unbekannte Richtungen. Erst als er eine Weile in der Bürolandschaft umhergegangen war, stellte er fest, dass sie menschenleer war.
In dem Moment kam Corine Bouhaddi durch die Tür des Opcop-Raums hereingeschlendert. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und sagte: »Du wirkst etwas verwirrt, Felipe.«
Was ihn vermutlich noch verwirrter erscheinen ließ.
»Kathedrale«, erklärte Bouhaddi und ging auf die massive Eichentür zu.
Als Felipe schließlich den Versammlungsraum betrat, war alles wieder wie immer. Als würde er nach Hause kommen.
Paul Hjelm saß an seinem Platz hinter dem Katheder, und Angelos Sifakis ließ die Leinwand von der Kassettendecke herunter, die dem Versammlungsraum seinen sakralen Spitznamen verliehen hatte.
»Ich schlage vor, dass wir nach zwei Tagen Arbeit den aktuellen Stand der Ermittlungen durchgehen«, sagte Sifakis. »Miriam Hershey und Laima Balodis sind, wie wir wissen, nach Straßburg gefahren, um das Projektteam der EU zur Identifizierung von Terroristen nach chiroplastischen Operationen aufzusuchen und mit den vier Mitarbeitern Massicottes zu sprechen. Wie ist es gelaufen?«
Wie synchrone Turmspringerinnen bewegten Hershey und Balodis ihre Fingerspitzen über die Mousepads ihrer Laptops.
Balodis ergriff das Wort: »Udo Massicotte hat sich am Samstagabend erhängt. Am Freitag war er wie immer an seinem Arbeitsplatz, genau wie seine vier Projektmitarbeiter. Und keiner von denen kann sich erinnern, dass sich der Freitag in irgendeiner Weise von anderen Arbeitstagen unterschieden hätte. Kurz gesagt, Massicotte verhielt sich wie immer.«
»Das heißt«, fuhr Hershey nahtlos fort, »abweisend und unzugänglich, aber extrem kompetent. Als er sein Büro um 16.07 Uhr am Freitagnachmittag verließ, war nur noch eine Person vor Ort, die Sekretärin des Projekts, Amandine Darleux. Sie tippte Massicottes letzten Bericht ab, mailte ihn an die Mitarbeiter und verließ die Büroräume um 16.53 Uhr.«
»Ich vermute, dass ihr den Bericht gelesen habt?«, fragte Paul Hjelm.
»Ja«, antwortete Balodis, »und wir haben ihn mit älteren verglichen. Dort steht nichts, was sich in Inhalt oder Tonfall von denen vorheriger Wochen unterscheiden würde. Udo Massicottes letzte uns bekannte Worte sind in dem üblichen bürokratischen Fachjargon verfasst.«
»Ist denn das ›Aber‹, das ich zwischen euren Zeilen heraushöre, reine Einbildung?«, fragte Hjelm.
»Ehrlich gesagt, sind wir uns nicht sicher, ob es ein Aber gibt«, antwortete Hershey und fingerte ein wenig an ihrem Laptop herum. »Das überlassen wir euch.«
Während auf der Leinwand das Bild einer Frau um die fünfzig mit Brille vor einem dicht bestückten Bücherregal erschien, sagte Laima Balodis: »Das ist Frau Professor Sanne Røddik Munk, eines der vier Forschungsmitglieder in Massicottes Gruppe.«
Hershey ließ den Film ablaufen.
Professor Sanne Røddik Munk erwachte zum Leben und sagte in dänisch klingendem Englisch: »Ich kann nicht behaupten, dass Professor Massicotte sich in der vergangenen Woche auch nur im Geringsten anders verhalten hätte als sonst. Er war so wie immer, abweisend, aber ein hochkompetenter Chef, einer der besten Ärzte für plastische Chirurgie und ein führender Forscher auf seinem Gebiet.«
»Das was umfasst?«, hörte man Balodis’ Stimme neben der Kamera fragen.
»Vieles ist, wie Sie sicher bereits bemerkt haben, als Sie das Gebäude betraten, streng geheim«, antwortete Røddik Munk und faltete die Hände in typischer Medizinermanier auf dem Schreibtisch. »Doch so viel darf ich wohl verraten, dass es sich um ein Computerprogramm handelt, das in zwei Schritten eine Analyse vornimmt. Im ersten Schritt geht es um die unmittelbare Identifikation eines Gesichts nach einer chiroplastischen Operation – also schlicht und einfach darum, ob ein Eingriff stattgefunden hat. Im zweiten Schritt wird eine Rekonstruktion des ursprünglichen Gesichts vorgenommen, die vor allem auf der Knochenstruktur basiert. Das
Weitere Kostenlose Bücher