Zorn: Thriller (German Edition)
Gebetsteppich neben dem Spiegel. Die Rolle wurde durch Kabelbinder zusammengehalten und war vollkommen verstaubt. Nicht ein einziges Mal seit ihrem Umzug nach Den Haag hatte sie den Gebetsteppich in Richtung Mekka ausgerollt. Zuvor in Marseille aber auch nicht besonders oft. Dort hatte sie während ihrer radikalen Jugendjahre Gender Studies an der Université de Provence Aix-Marseille studiert und sich in einem Zustand unablässigen politischen Zorns eine eigene Wohnung gemietet. Damals hatte sie eine Gemeinschaft verlassen – einen sicheren stabilen Familienverband – und seither noch keine neue gefunden. Ihre Wurzeln waren öfter gekappt worden, als es irgendein Mensch ertragen sollte, und abgesehen von der Flucht aus dem Maghreb in ihrer Kindheit, aus ihrer Geburtsstadt Safi an der marokkanischen Westküste, war sie seither stets selbst dafür verantwortlich.
Allein ist man stark.
Schließlich wanderte ihr Blick zu dem Aschenbecher auf dem Couchtisch hinüber. Darin lagen ein paar farbige Kippen, deren süßlicher Geruch noch in der Wohnung hing. Wenigstens kein Alkohol, sagte sie sich, ich bin Muslimin, ich trinke keinen Alkohol. Doch diese Tatsache ließ die Anzahl der Jointkippen im Aschenbecher nicht weniger besorgniserregend aussehen.
Sie lachte erneut auf und machte sich auf den Weg. Die Fahrradtour durch das morgendlich kühle Den Haag reinigte ihre Lungen, die wiederum ihr Gehirn reinigten, und als sie auf der Treppe zum Europolgebäude Gesellschaft von Felipe Navarro erhielt, breitete sich eine angenehme Wärme in ihr aus. Ihr kam in den Sinn, dass sie Europa auf sonderbare Weise liebte, auch wenn Navarro heute erstaunlich eigensinnig wirkte, doch auf noch sonderbarere Weise war sie in dieser hübschen, wenn auch leicht bizarren Kleinstadt, die sich zum Nabel Europas entwickelt hatte, zu Hause angekommen. Vielleicht noch nicht voll und ganz – sie vermisste beispielsweise noch immer einen festen Partner –, aber doch ein ganzes Stück weit.
Als Corine Bouhaddi kurz darauf Paul Hjelm hinter dem Katheder in der Kathedrale thronen sah, hatte sie plötzlich eine Vatervision. Felipe Navarro ging vor ihr und marschierte ohne ein Wort nach vorn, wo er eine Übertragung arrangierte, sodass das elektronische Whiteboard aus der offenen Bürolandschaft auf der Leinwand in der Kathedrale sichtbar wurde. Was dann folgte, war ein erstaunlich purer Genuss. Bouhaddi lehnte sich zurück, verfolgte das Geschehen und spürte, wie die befremdlichen Eindrücke der Nacht spurlos verschwanden.
»Auch wenn heute Samstag ist, für uns gibt es eine Menge zu tun«, begann Navarro ohne Umschweife, »wir sind einer Lösung im Massicotte-Fall bislang noch nicht näher gekommen. Und es ist uns ebenfalls noch nicht gelungen, eine Verbindung zwischen Massicotte, der plastischen Chirurgie bei Terroristen und dem eigentümlichen Kneipenmord an dem international gesuchten Waffenhändler Isli Vrapi herzustellen. Die Annahme, dass es dennoch eine derartige Verbindung geben könnte, fußt jedoch ausschließlich auf der Intuition unseres Chefs ...«
»Nicht nur«, entgegnete Paul Hjelm hinter seinem Katheder. »Wie Señor Navarro sehr wohl weiß, haben wir von diversen militärischen Nachrichtendiensten Hinweise auf erhöhte terroristische Aktivitäten erhalten.«
»Was lediglich regere Betriebsamkeit in den Reihen islamistischer Terroristen meint.«
»Und was hattest du heute stattdessen vor?«, fragte Hjelm ruhig zurück.
»Wie bitte?«, rief Navarro aus.
»Welche Samstagspläne haben wir dir zunichtegemacht?«
»Strandspaziergang mit Señora Navarro?«, schlug Marek Kowalewski aus dem Auditorium vor, woraufhin Navarro ihm einen bösen Blick zuwarf.
»Das hat doch nichts mit mir zu tun«, brummte er. »Ich finde nur, dass die Suche nach Zusammenhängen hier Geldverschwendung ist.«
»Es ist allerdings problematisch, dies vor einem Publikum wie uns zu äußern«, warf Arto Söderstedt ein. »Denn alles hängt immer mit allem zusammen.«
»Zahllose Detektivhirne sind bereits aktiv und bearbeiten Informationen«, sagte Angelos Sifakis. »Hat irgendjemand eine Idee?«
»Felipe musste auf etwas Wichtiges verzichten«, mutmaßte Miriam Hershey. »Er wurde angegriffen und schlägt jetzt zurück, attackiert uns. Also ist es etwas Persönliches. Etwas Wichtiges und Persönliches.«
»Sehe ich auch so«, pflichtete Sifakis bei. »Aber er hat uns neulich gesagt, dass der Umzug überstanden ist und die Handwerker fertig sind. Also
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