Zorn: Thriller (German Edition)
selbst übergab. Der restliche Flug war für alle Beteiligten eine harte Prüfung.
Einzig Corine Bouhaddi ging es gut. Sogar erstaunlich gut. Für sie war es, als erwachte sie zu neuem Leben.
Da sie die Insel vom Nordwesten her, also von Nizza und nicht von Livorno aus, anflogen, wirkte sie vollkommen unbewohnt, als sie sich langsam am wolkenverhangenen Horizont abzeichnete. Bouhaddi sah sich im Innenraum des Hubschraubers um. Beyers und Söderstedts Kleidung war mit Erbrochenem verschmiert, während Hjelm zwar blass, aber gefasst wirkte. Ein sogenanntes Kräftesammeln.
Elitekonzentration. Sie musste lachen.
Im selben Augenblick wurde ein altes Gefängnisgebäude unter ihnen sichtbar. Zu einem größeren Haus, dessen Steinmauern dieselbe gelblich-braune Farbe hatten wie die Erde rundherum, führte eine Treppe hinauf, die eigenartig verlassen wirkte. Das Gebäude selbst bestand aus einem Kubus mit zwei niedrigeren Anbauten, Reihen eingeschossiger Gefängniszellen, die sich zu beiden Seiten hin erstreckten. Um den Koloss herum standen diverse weitere Gebäude verstreut.
Auf dem Gelände war allerhand los. Polizisten, Absperrbänder, Planen, Streifenwagen. Zwei Polizeiwagen hatten sich tatsächlich die Serpentinen hinaufgequält, es waren schwarze Wagen der Carabinieri mit roten Seitenstreifen. Und mitten auf dem Gefängnishof hatte man Platz für einen Hubschrauber von Europol abgesperrt. Während dieser landete, fragte Corine Bouhaddi sich, wie es Hjelm wohl gelingen würde, ihre Anwesenheit zu verheimlichen. Wie lange konnte man sich Beobachter nennen, ohne dass es durchschaut würde?
Sie stiegen in einem ziemlich miserablen Zustand aus dem Hubschrauber. Liefen durch die Windböen der Rotoren wie in einem Hollywoodfilm, der sein Budget öffentlich sichtbar machen muss, und erreichten schließlich die eindeutige Hauptfigur des Geschehens. Sie wirkte im Vergleich zu den breitschultrigen Männern, zwischen denen sie stand, nicht besonders groß.
Bouhaddi erkannte sie nicht sofort wieder. Denn es war eine Weile her, seit sie die Frau zuletzt gesehen hatte – auf dem Bildschirm an der Wand der Kathedrale in Den Haag. Sie war die Chefin der italienischen nationalen Opcop-Einheit. Sie hieß Donatella Bruno.
»Donatella«, schrie Hjelm, um die abebbenden Motorengeräusche des Hubschraubers zu übertönen.
»Paul«, erwiderten Donatella Brunos Lippen, und sie nickte.
Hjelm stellte ihr, immer noch schreiend, den Rest der Gruppe vor. Der Motor des Hubschraubers wollte einfach nicht verstummen.
»Er wurde heute am frühen Morgen von einem deutschen Wanderer gefunden«, schrie Donatella Bruno. »Wir haben den Wanderer in eine der Zellen platziert. Vielleicht kann Beyer sich mit ihm unterhalten?«
»Kümmerst du dich um ihn, Jutta?«, rief Hjelm.
Beyer nickte und folgte einem der Breitschultrigen zu einer ungefähr zehn Meter entfernten Tür in dem ehemaligen Gefängnisgebäude.
»Schon irgendein Zeitpunkt für den Eintritt des Todes?«, fragte Hjelm, der nun endlich leiser sprechen konnte. Der Hubschrauber hustete widerspenstig und verstummte.
»Wir hatten einen Rechtsmediziner da«, antwortete Donatella Bruno und wies den Opcop-Leuten mit einer dezenten Geste den Weg. »Er tippt auf den späten gestrigen Abend, vermutlich zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr. Der Mann dürfte also inzwischen mehr als zwölf Stunden tot sein. Ich fand es dennoch angebracht, auf euch zu warten. Um zu erfahren, was ihr seht.«
Sie näherten sich dem Hauptgebäude und einer quer halbierten Zellentür etwas links von dem Mittelkubus. Davor lag eine blaue Abdeckplane. Hjelm zeigte fragend darauf.
»Kleinere Funde«, erklärte Donatella Bruno. »Damit warten wir noch.«
Sie erreichten die Gefängniszelle. Die halbe Tür hing steif in der Türöffnung, als wäre sie in ihrer Angel festgerostet. Die Ermittler versorgten sich mit Schutzkleidung aus einer Kiste vor der Tür.
In dem Moment, als sie mit stilvollen blauen Plastikschonern über den Schuhen über die hohe Schwelle traten, sagte Bruno: »Darf ich euch den Europaparlamentarier Professor Roman Vacek vorstellen? Komplett mit Bisswunde am Oberarm.«
Der großgewachsene Mann lag mit bloßem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen bäuchlings auf dem kargen Steinfußboden. Unmittelbar unterhalb seiner Schulter war ein großes Stück Fleisch bis auf den Knochen aus dem Oberarm gerissen worden.
»Und das nennst du Bisswunde?«, rief Corine Bouhaddi.
»Es geht
Weitere Kostenlose Bücher