Zorn: Thriller (German Edition)
Wellenbewegung. Doch äußerlich betrachtet liegt er ganz still, während die Dämmerung in den Morgen übergeht, der Morgen in den Tag, der Tag in den Nachmittag, der Nachmittag in den Abend. Jetzt liegt er bereits eine Nacht und einen Tag lang hier. In exakt derselben Position.
Es ist, als verschmelze er mit der Natur.
Doch je weiter der Tag voranschreitet, desto hungriger wird er, ganz zu schweigen von seinem Durst. Der Durst ist das Schlimmste.
Als das Tageslicht zum ersten Mal deutlich abnimmt, ist sein Mund wie ausgetrocknet. Vielleicht würde er das aushalten können, wäre da nicht diese Erinnerung. Die Erinnerung an das leise Plätschern.
Die winzig kleine Quelle.
Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn er keine Hoffnung mehr gehabt hätte. Aber er hat Hoffnung. Das Bild von der Quelle. Das Wasser, das wie die zurückgehaltenen Tränen Gottes daraus hervortritt.
Es ist gerade mal vierundzwanzig Stunden her, dass er ausgiebig getrunken hat. Doch jetzt ist sein Mund wieder völlig trocken. Er versucht auszuharren, doch er sieht ein, dass er nicht überleben wird, wenn er nicht wenigstens einen Versuch unternimmt. Es müsste in einer Minute zu schaffen sein. Denn er findet die Quelle ja anhand des Zeichens, das nur er und kein anderer erkennt.
Er wartet auf die Dämmerung. Das dumpfe, immer präsente Jammern vom Ufer her hält an, homogen und konsequent, aber darüber hinaus hört er keine anderen Geräusche.
Er muss aufstehen.
Sein Körper schmerzt. Sein gesamter zehnjähriger Körper fühlt sich wie ein großer blauer Fleck an. Auch nur die geringste Bewegung setzt sein Gehirn in Brand.
Schließlich kniet er in seiner Höhle. Die Dunkelheit hat sich bereits über die Insel gelegt, nur ein paar schmale Lichtstreifen sind noch zu erkennen. Deda lugt über den Rand.
Seinem Blick fehlt die Tiefenschärfe. Er hat einen Tag und eine Nacht lang geradewegs in den Himmel gestarrt. Es dauert lange, bis es ihm gelingt, seine nähere Umgebung zu fokussieren. Doch dann sieht er ein Y.
Er kann nicht abschätzen, wie weit es bis dahin ist. Der Zweig, der wie ein Y geformt ist, steht dort hinten wie ein Pfeil, der geradewegs in den Boden weist. In die Erde. Auf die Quelle.
Die winzig kleine Quelle.
Oder hinunter ins dunkle Herz der Insel.
Kein Mensch scheint in der Nähe zu sein.
Es muss möglich sein.
Er klettert aus der Höhle, und sofort schlägt ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen. Die Insel hat angefangen zu stinken. Die gesamte Insel stinkt nach Leichen.
Sein Körper fühlt sich wie eine offene Wunde an. Der Schmerz jagt durch ihn hindurch. Er stolpert vorwärts, fällt. Steht wieder auf, stolpert erneut. Und ist angekommen.
Er geht neben seinem Y in die Hocke. Durch den Schmerz hindurch registriert sein zehnjähriges Unterbewusstsein, dass er irgendetwas vergessen hat, in diesem Moment etwas außer Acht lässt. Doch es wird ihm erst bewusst, als er den Zweig aus der Erde gezogen, das Laub und die übrigen Zweige beiseitegeschoben hat und die Quelle hört, doch da ist es bereits zu spät.
Als Deda sich mit dem Gesicht zur Quelle hinunterbeugen will, sieht er, wie sich das letzte Tageslicht in etwas widerspiegelt, das einem Mond gleicht.
Doch es ist kein Mond.
Es ist ein Gesicht. Ein Gesicht mit einer Glatze.
Sein Blick erreicht die Quelle nicht. Er bleibt am Blick des Glatzköpfigen hängen.
Dessen Blick nicht mehr der eines Menschen ist.
Alles Weitere spielt sich ohne die eigentliche Anwesenheit Dedas ab. Es ist, als befände er sich die ganze Zeit über irgendwo anders, und nur der Schmerz hält ihn auf der Erde. Jemand ergreift seinen Arm und zerrt ihn zu Boden. Ein anderer ergreift den anderen Arm, ein dritter sein Bein. Er liegt mit dem Gesicht auf Moos und Erde gepresst, während seine Arme seitlich von seinem Körper weggestreckt sind, als hinge er am Kreuz.
Deda betrachtet sich selbst von oben. Er sieht das Kreuz, das sein Körper bildet. Es ist das dunkle Herz der Insel.
Sie reißen ihm Großmutters warme Jacke, Großmutters warmen Winterpullover, die Strickjacke und das Unterhemd vom Leib.
Vielleicht lässt ihn die Tatsache, dass ihm alles bereits so wehtut, den Schmerz überleben, als der erste Biss kommt. In den rechten Oberarm. Ein großer Biss. Er spürt, wie das Fleisch von seinem Körper gerissen wird. Eine unvergängliche, unauslöschliche Erinnerung, die so lange andauern wird, wie sein Leben währt. Das denkt er tatsächlich.
Solange mein Leben währt.
Er schaut
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