Zorn: Thriller (German Edition)
bevor sie die Bombe hochgehen ließ: »Etwas habt ihr zumindest noch nicht gesehen. Aber es befindet sich auch nicht hier, sondern in einem anderen Gebäude von La Mortola, wie dieses alte Gefängnis genannt wird. Ihr könnt eure Schutzkleidung anbehalten. Am nächsten Ort gibt es neue Schuhschoner.«
Sie machten sich auf den Weg. Es war bewölkt und schwül. Als läge ein Gewitter in der Luft.
Hjelm holte Bruno mit ein paar schnellen Schritten ein. Mit leiser Stimme, fast flüsternd, sagte er: »Du hast dich ja gar nicht um eine Stelle in der Opcop-Kerngruppe bemüht ...«
»Nein.«
»Ich hatte angenommen, du würdest dich um Tebaldis Stelle bewerben.«
»Und Rom für Den Haag verlassen? Hast du das ernsthaft geglaubt?«
»Es ist schließlich ein attraktiver Posten ...«
»Würde ich ihn denn bekommen, wenn ich mich beworben hätte?«
Hjelm lächelte und blieb stehen. Sie waren offenbar angekommen. Jutta Beyer schloss zu ihnen auf. Und Hjelm fragte sie: »Wie lief es mit dem Entdecker der Leiche?«
Beyer zuckte mit den Achseln. »Deutscher Wanderer, allein unterwegs. Keine Auffälligkeiten. Ist seit ein paar Tagen auf Capraia. Roch unangenehm.«
Hjelm nickte. Die Gruppe begann unter einem Treppchen, das in ein separates kleineres Gebäude führte, in einem Karton mit Schuhschonern zu wühlen. Auch Donatella Bruno wechselte ihre Plastiküberzüge und stieg dann mit langsamen Schritten die Treppe hinauf. Vor dem Eingang des Gebäudes blieb sie auf der Schwelle stehen, drehte sich um und erklärte: »Das hier war die Gefängniskapelle, der einzige Trost der Gefangenen in ihrer Trübsal. Kommt alle herein.«
Woraufhin ein hastiges Wechseln der Schuhschoner einsetzte. Schließlich betraten sie einer nach dem anderen die Kapelle. Donatella Bruno ging auf die gegenüberliegende Wand zu und begann, in einem Loch herumzufingern. Sie zog ein kleines zusammengerolltes Blatt Papier heraus und hielt es hoch.
»Wir können natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob dieser Zettel mit den Ereignissen der vergangenen Nacht zu tun hat, aber zum einen sieht er ziemlich neu aus, und zum anderen ist sein Inhalt von Interesse.«
Sie wickelte die kleine Papierrolle auseinander und sagte: »Das Blatt scheint mit einem Laserdrucker ausgedruckt worden zu sein, und ich möchte darum bitten, mein schlechtes Französisch zu entschuldigen. Der Text lautet folgendermaßen: ›Qui m’envoie cette pensée? Puisqu’il n’y a que les morts qui sortent librement d’ici, prenons la place des morts.‹«
Corine Bouhaddi übersetzte für alle: »Wer sendet mir diesen Gedanken? Weil nur die Toten frei von hier wegkommen, so will ich den Platz des Toten einnehmen.«
»Klingt wie ein Zitat«, sagte Hjelm. »Kennst du es, Corine?«
»Nein«, antwortete Bouhaddi, »ich kann nicht direkt behaupten, dass ich es kenne. Aber es kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»In Ordnung«, sagte Söderstedt. »Ich kann auch nicht behaupten, dass ich es kenne, aber es hat einen gewissen Rhythmus, als wäre es ein literarisches Zitat.«
»Und in welchem Zusammenhang könnte es zu diesem Fall stehen?«, fragte Hjelm rasch.
Söderstedt holte Luft und antwortete: »Vereinfacht lautet der Text: »Nur als Tote kommen wir von hier weg.« Ich verstehe zwar nicht ganz, wie man diese Aussage in Verbindung zu dem Mord, dem Ort und der Vorgehensweise bringen soll, aber eine Verbindung scheint es definitiv zu geben.«
»Die zudem wohl auf eine sorgfältige Planung hinweist«, mutmaßte Beyer. »Vielleicht nicht gerade auf einen Serienmord, aber zumindest auf ein System.«
»Aber an wen richtet sich diese Mitteilung?«, fragte Hjelm. »Handelt es sich um einen gewöhnlichen Aufschneider, der uns zeigen will, wie toll er ist? Dafür gibt es hier zu viele unvereinbare Elemente. Den EU-Parlamentarier, die Mitteilung, die Pferdespritze, das Messer, den Biss, die Insel, das stillgelegte Gefängnis ... Das Ganze klingt eher nach einer ziemlich komplexen Geschichte.«
»Die noch nicht zu Ende ist«, meinte Söderstedt und nickte. »Instinktiv glaube ich, dass es tatsächlich ein Serienmörder ist. Mit einer Art Mission. Und zwar der übelsten Art.«
»Dann liegt also noch einiges an Arbeit vor uns«, schloss Hjelm. »Ich denke, dass wir die Kriminaltechniker jetzt hereinlassen sollten. Können wir auf deine Hilfe zählen, Donatella?«
»Ich kenne mich mit diesen Dingen aus«, entgegnete Donatella Bruno mit einem dezenten Lächeln.
»Ich hätte nichts anderes
Weitere Kostenlose Bücher