Zorn: Thriller (German Edition)
ist absolut erfrischend. Runter mit der Tasche, der Sonnenbrille, sich hinsetzen und mit dem Rücken gegen die Wand lehnen. Die Augen schließen und nachdenken. Die Erinnerungen wachrufen.
Das Außenfach der Tasche. Den Reißverschluss öffnen. Die Pferdespritze vorsichtig herausnehmen. Absurd, bei dem grellen Sonnenlicht betrachtet.
Das, was auf Capraia vorgefallen ist, muss Zufall gewesen sein. Heute Abend muss man vorsichtiger sein, das ist alles. Es wird nicht noch einmal geschehen. Der erste Fehler. Der eigentlich kein Fehler war, sondern etwas, das in keiner Weise vorherzusehen oder zu verhindern gewesen wäre. Man muss es als Zufall betrachten.
Je mehr Wiederholungen, desto stärker setzt man sich dem Zufall aus. Und manchmal verkörpert der Zufall das Unwahrscheinlichste.
Aber die Waagschale ist bald voll. Was geschieht dann?
Bis zu diesem Zeitpunkt war es notwendig, der Frage auszuweichen. Den Fokus vollständig auf die Gegenwart zu richten. Auf die Genugtuung. Doch bald ist es vollbracht. Wird irgendjemand zuhören? Sie müssen es sich verdienen, die Polizisten. Die sogenannten Hüter des Gesetzes. Sie waren schon immer käuflich.
»Ein Polizeikommissar im Dienst ist kein Mensch, er ist lediglich ein Werkzeug des Gesetzes, eiskalt, taub und stumm.«
Die wenigen, die den Mut hatten, sich einzugestehen, dass das, was sie tun, krank ist, sind immer schon bestraft worden. Man muss nur auf Goli otok schauen.
Gibt es auch nur einen einzigen Bullen, der aufmerksam genug ist, den losen Fäden hier auf die Spur zu kommen, und clever genug, um sie miteinander zu verbinden? Sie in der richtigen Art und Weise zu verknüpfen? Wohl kaum.
Ein realistischer Ausblick auf die Zukunft ist, nie geschnappt zu werden.
Und was geschieht dann?
Zurück zu dieser Frage. Diejenigen, die es unterstützt haben, gab es überall. Sie gab es immer, gibt es immer noch. Unendlich viele. Was auch immer geschieht, Deda musste nicht vergebens leben und sterben.
Das ist die Aufgabe.
Wird es dennoch jemanden geben? Irgendjemanden auf dem gesamten Erdball, der die Wahrheit aufdecken kann und begreift, worum es geht? Gibt es einen solchen Polizisten? Der außerdem noch darüber berichten kann?
Wenn es denn überhaupt noch Polizisten gibt.
Das Sonnenlicht vor den glaslosen Fensteröffnungen ist jetzt nicht mehr so grell, und die Schatten verändern sich. Ausnahmsweise einmal keine Gefängnisfenster. Kein Grinsen durch Gitter hindurch. Doch derjenige, der hier gearbeitet hat, womit auch immer er sich beschäftigt haben mag, war definitiv ein Gefangener. Denn es gab keine anderen Leute hier. Außer den Aufsehern. Die sogenannten Hüter des Gesetzes. Man sagt, dass es Wehrpflichtige waren und dass sie für ein Jahr auf Goli otok zwei Jahre Wehrpflicht angerechnet bekamen. Es war eine Möglichkeit, den Militärdienst abzukürzen. Unter ihnen müssen doch Oppositionelle gewesen sein. Menschen mit Zivilcourage. Oder waren sie alle Egozentriker? Drückeberger? Schwindler? Darüber schweigt die Geschichte.
Die Sonne vor der Fensteröffnung ist dabei, langsam unterzugehen. Der Countdown beginnt. Es ist Deda, der aus seiner Höhle aufschaut, der sieht, wie sich der Rand der Höhlenöffnung nach der langen Nacht langsam wieder abzeichnet. Der Kreis nimmt erneut seine eintönige graue Farbe an. Deda hat die ganze Nacht über gesehen, wie die Raubtierblicke sich über den Rand schoben, immer wieder. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Traum und Wirklichkeit. Und er friert. Er friert entsetzlich.
Die ganze Nacht lang hat er gesehen, wie sich die Bande des Glatzköpfigen mit diesen animalischen Blicken aus ihren blitzenden Augen entlang der Pappeln aufreihte. Im Wald mit dem Niemandslandring. Alles stürzt erneut auf ihn ein. Auch das endlose Jammern all der Leidenden auf der Insel.
Aber er muss ausharren.
Das ist die Kunst, sich zu bewegen und gleichzeitig still zu liegen.
Während der Nacht hat er sich unter einem Bett aus Ästen und Zweigen eingegraben. Sie bedecken ihn auch jetzt noch, er ist kaum zu sehen. Eigentlich dürfte Dedas Arrangement einem Blick in die Höhle hinunter standhalten. Denn nur seine Augen lugen unter dem Geäst hervor – so hofft er jedenfalls, aber er kann sich ja selbst nicht sehen –, und die Grube ist als Versteck für einen Erwachsenen zu klein. Sie ist wie für ihn gemacht.
Er weiß, dass er sich nicht bewegen darf. Dennoch tut er es. Mit mikroskopischen Muskelkontraktionen, einer inneren
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