Zorn: Thriller (German Edition)
Formation. Ein weißer Hauthügel.
Schließlich hörten sie Mlakars Flüstern: »Ich hoffe, dass ihr das aufzeichnet. Rudi Schrempfs rechte Schulter, ich sehe keinen Einstich. Scheint alles intakt zu sein. Hierher, Rok. So. Linke Schulter. Ist dort etwas zu sehen? Nein Rok, etwas weiter oben, in Richtung Schlüsselbein. Dort, ja. Ich dachte, es wäre ein Muttermal, aber wer weiß. Was sagt ihr in Den Haag dazu? Aber sagt es leise ...«
»Es ist schwer zu erkennen«, antwortete Paul Hjelm und betrachtete den Bildschirm eingehender. »Wir sind auf deine Deutung angewiesen, Miladin.«
»Es ist ein Einstich«, erklärte eine fremde Stimme auf Englisch mit starkem Akzent, vermutlich war es Rok Natek.
»Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher«, entgegnete Mlakar, »aber es sieht ganz danach aus. Hol ihn mit dem Zoom näher heran, Rok. Ihr müsst euch den Film dann aufmerksam anschauen. Und irgendwann in einem halben Jahr oder so wird auch noch ein Bericht aus Kroatien eintreffen.«
»Liebe zwischen verbrüderten Völkern«, sagte Hjelm neutral.
»Aber«, erklärte Mlakar etwas lauter, »das wollten wir euch eigentlich in erster Linie gar nicht zeigen. Sondern dies hier. Folgt mir bitte.«
Als hätten wir eine Alternative, dachte Jutta Beyer.
Eine zitternde Kamera fing Miladin Mlakars markante Kinnpartie ein, während er aufstand und eine dezente Geste in Richtung Kamera machte. Sie bewegten sich durch eine, wie es schien, sehr enge und verfallene Gefängniszelle und stießen nach nur wenigen Metern auf eine karge Steinmauer.
»Wenn ihr wüsstet, was wir auf uns nehmen mussten, um für einige Minuten allein in der Zelle sein zu dürfen«, flüsterte Mlakar und hob einen Zeigefinger. Er bewegte ihn langsam und dramatisch an der Steinmauer hinauf. Dann hielt er inne. Die zitternde Kamera zoomte den Zeigefinger ruckartig heran. Aber vor allem das, worauf er zeigte.
Etwas, das aus der Mauer herausragte, aber nur ein kleines Stück, kaum sichtbar. Es war eine kleine Rolle.
Mlakar zog sie sachte heraus. Mit einem unbestreitbaren Gefühl für Dramaturgie rollte er das Papier aus und sagte dann, nach einem undefinierbaren Blick in die Kamera: »Mein Französisch ist grotesk. Grotesque .«
»Halten Sie den Zettel einfach in die Kamera, wir machen einen Screenshot und haben eine Kollegin, die ihn uns übersetzen kann«, entgegnete Hjelm.
»Also dann. Hier ist er.«
Zunächst ein wenig wacklig, aber dann gut lesbar, erschien ein französischer Text auf dem Wandschirm.
»Vielen Dank, wir haben es«, rief Arto Söderstedt nach einer Weile aus.
»Thank you, Mister Sadestatt« , erwiderte Miladin Mlakar und verbeugte sich theatralisch.
»Nein, wir haben zu danken«, entgegnete Paul Hjelm. »Außerordentlich gute Arbeit auf Goli otok. Bleibt dort, solange am Tatort noch Aktivität herrscht, und lasst von euch hören, wenn sich etwas Neues ergibt.«
»Sind die beiden Stellen in Den Haag eigentlich noch frei?«, fragte Mlakar und zwinkerte mit einem Auge in Richtung Kamera. »Rok ist nämlich ziemlich scharf darauf.«
Die Kamera erzitterte erneut, dann war ein Brummen zu vernehmen, und mit einem blauen Blitz war das Bild verschwunden.
»Das ist ja wie verhext«, rief Paul Hjelm aus. »Ich hätte diese Morde dem aufgestauten Zorn eines frustrierten Spinners zugeschrieben, aber der Zettel zeugt von sorgfältiger, kluger Planung. Du hattest verdammt noch mal recht, Arto. Wir haben es mit einem Serienmörder zu tun.«
»Ich fürchte auch«, erwiderte Söderstedt. »Und er ist in der Tat zornig. Zornig, aber eiskalt. So zornig, dass er eiskalt ist.«
Hjelm wandte sich an den in seinen Computer tippenden Sifakis: »Haben wir irgendwelche unmittelbaren Treffer zu ›Kannibalismus auf Gefängnisinsel‹ und ›Zettel mit Dumas-Zitat‹?«
»Ich habe in der Richtung gesucht«, antwortete Sifakis, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Aber auch das hat keine Treffer erzielt.«
»Schade«, sagte Hjelm. »Corine, wie würdest du diesen französischen Satz übersetzen?«
Bouhaddi hatte mitgeschrieben, als Mlakar die französische Mitteilung in die Kamera gehalten hatte. Mit einem Blick auf ihre Notizen antwortete sie: »Auf dem Zettel in der Gefängnismauer auf Goli otok stand: ›Ein Polizeikommissar im Dienst ist kein Mensch, er ist lediglich ein Werkzeug des Gesetzes, eiskalt, taub und stumm.‹«
»Ich hätte es selbst nicht besser sagen können«, meinte Arto Söderstedt.
Ein kurzer Brief
Flensburg,
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