Zorn: Thriller (German Edition)
20. Mai
Nein, ich weiß nicht, wer Sie sind, Herr Kommissar. Aber ich ahne es. Sie kommen aus Kreisen, in denen ein Polizeikommissar im Dienst kein Mensch ist, sondern lediglich ein Werkzeug des Gesetzes, eiskalt, taub und stumm. Wenn Sie ernsthaft vorhaben, mich festzunehmen, müssen Sie zuvor eine große Anzahl komplizierter Schritte unternehmen. Das Problem besteht darin, dass ich derjenige bin, der diese Schritte vorgibt.
Jeden einzelnen Schritt, den Sie tun.
Um meinen Schritten folgen zu können, ist ein derart selbstständiges Denken nötig, dass Sie mir fast Angst einjagen würden, wenn es Ihnen gelänge. Schließlich ist es leichter, Hinweise zu streuen, als sie zu finden, miteinander zu verknüpfen und ihnen zu folgen. Das verdient Anerkennung, unbekannter Polizist.
Dass Sie dabei jedoch letztlich nur meinem Plan folgen, ist eine andere Sache.
Wann werden Sie diesen Brief also erhalten? In dieser Frage bin ich mir noch nicht ganz sicher. Den richtigen Zeitpunkt zu wählen ist bei alldem wichtig.
Wie auch für Edmond Dantès. Und wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, wissen Sie, was der Graf von Monte Christo unternommen hat.
Heute ist der zwanzigste Mai. Die Nachricht von dem Toten auf Goli otok muss Sie gerade erreicht haben. Wovon sollen wir ausgehen? Dass Sie bereits wissen, in welche Richtung wir unterwegs sind? Wohl kaum. Aber Sie sind sich dennoch im Klaren darüber, dass etwas Wichtiges geschieht, nicht wahr? Sie tappen im Dunkeln, von dem Gefühl verfolgt, ständig das Wichtigste zu übersehen.
Das Wichtigste ist aber nicht Dantès, sondern es geht um Deda, weshalb ich nun zu dem Schluss gekommen bin, dass ich diesen Brief – den ich mit meinem Reisedrucker im Hotelzimmer in der befremdlich wirkenden Grenzstadt Flensburg ausdrucke – immer in der Gesäßtasche meiner Hose bei mir tragen werde. Wenn Sie mich festnehmen, ist er Ihre Belohnung, unbekannter Polizist. Genau dieser Brief.
Sie müssen verstehen, was es für mich bedeutet. Ich bin bei Deda aufgewachsen, er war der wichtigste Mensch in meinem Leben, und mein Leben verlief so, dass ich sah, was er sah, fühlte, was er die ganze Zeit fühlte.
Es ging nicht allein um den Arm.
Obwohl er im Augenblick natürlich auch wichtig ist. Die Jahre, die vergangen sind. Dieser Anfang, der kein richtiger Anfang war. Ich wusste kaum, was ich tat, nur, dass ich es tun musste. Und dann die Intensität. Wie bedeutsam alles wurde. Ich brauchte einen Zollstock, eine Maßeinheit, ein Gewicht. Und damit zeichnete sich irgendwo in der Ferne ein Ziel ab. Eine Zielgerade. Ein Endspurt.
Und auf der befinden wir uns jetzt, Sie, der unbekannte Polizist, und ich.
Als würde ich ernsthaft glauben, dass es noch allein agierende Polizisten gibt. Das ist eine Illusion, der sich Menschen hingeben, die das Weltgeschehen nicht besonders intensiv verfolgen. Der einsame Polizist, der auf eigene Faust einen ebenso einsamen Mörder jagt, ist schon lange Vergangenheit.
Ich werde Sie dennoch meinen unbekannten Polizisten nennen, wie viele Sie auch sein mögen. Es hat etwas Romantisches und Nostalgisches, das ich nur ungern missen möchte. Außerdem denke ich auch wie ein richtig altmodischer Serienmörder. Ich brauche einen Gegner.
Der Arztbericht war nicht das Resultat einer einfachen Rekonstruktion. Es war etwas komplizierter. Der Spezialist für Anatomie kam zu uns nach Hause und nahm Maß und wog. Stimmte die Daten mit den wenigen Punkten ab, die sich auf der Wachstumskurve befanden. Berechnete die Wochen des Nahrungsmangels mit ein. Zog den Knochenstumpf ab. Kam schließlich auf eine Zahl.
Diese Zahl wurde zu dem Maß, das einem anfänglich unendlich vorkam. Es war sozusagen kein Endpunkt in Sicht.
Aber jetzt ist es anders. Das Maß ist voll. Die Waagschalen sind inzwischen fast gleich schwer. Es fehlt nur noch wenig. Und wer der Letzte sein wird, liegt an Ihnen, Sie unbekannter Polizist.
In dieser Welt ist alles eine Frage des Marketings. Es geht um die Kunst, auf sich aufmerksam zu machen, durch das mediale Gebrüll hindurch gehört zu werden. Ich glaube, diese Kunst erlernt zu haben. Und jetzt geht es nur noch darum, ob Sie wissen, was zu tun ist, unbekannter Polizist. Wie man die Muskeln anspannt. Wie stark sie sind, spielt keine Rolle, entscheidend ist, wie man sie einsetzt.
Noch einmal: Denken Sie an Edmond Dantès.
Genau wie im Fall des engelsgleichen Dantès kommt es ganz unerwartet, dass ich mich dieser Sache annehmen muss. Ich war ehrlich gesagt
Weitere Kostenlose Bücher