Zorn: Thriller (German Edition)
nicht erkennen, wer. Etwas unentschlossen blieb er stehen.
Die Coffeeshops in Holland stellten Ausländer und besonders ausländische Polizisten vor ein Dilemma. Etwas Marihuana oder Weed in einem Coffeeshop zu rauchen war in Holland nicht verboten. Aber sich als spanischer Polizist mit einem Joint im Mundwinkel ertappen zu lassen war im Hinblick auf die eigene Karriere vermutlich ungünstig. In Spanien war es illegal, hier legal. Machte man einen Fehler?
Glücklicherweise hatte sich diese Frage für ihn bislang noch nicht gestellt, denn Felipe Navarro war an Drogen nicht interessiert. Er betrachtete die winkende Gestalt näher, konnte jedoch beim besten Willen nicht erkennen, wer es war. Im Normalfall hätte ihn sein hochaktives Über-Ich daran gehindert hineinzugehen, aber in dieser Nacht war sein Über-Ich nicht besonders aktiv.
Auf der Schwelle schlug ihm eine süßliche Rauchwolke entgegen. Ihn befiel die Assoziation von Opiumnebel in verruchten chinesischen Kellerlokalen, und er musste sich erst ein Blickfeld freifächeln. Die Luft anhaltend, ging er auf die Gestalt zu, die in der Ecke am Fenster saß. Erst als er näher kam, stellte er fest, dass es Corine Bouhaddi war. Sie sah anders aus als sonst, nicht zuletzt aufgrund des Joints in ihrer rechten Hand.
»Du machst also eine Nachtwanderung?«, fragte sie entspannt.
»Schlafstörungen«, antwortete Navarro, schüttelte ihre ausgestreckte Hand und setzte sich.
»Und was spukt in deinem Kopf herum? Das Kind?«
»Unter anderem«, antwortete Navarro. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau. Es ist eine innere Unruhe. Und du?«
Bouhaddi lachte auf und antwortete: »Allein ist man stark.«
»Okay ...?«, meinte Navarro und spürte, wie sich eine erstaunliche Ruhe in ihm ausbreitete.
»Ach, vergiss es«, wiegelte Bouhaddi ab. »Ich erschrecke nur vor meinem eigenen Spiegelbild, das ist alles.«
»Ist es uncool, noch nie in einem Coffeeshop gewesen zu sein?«, fragte Navarro und schaute sich um.
»Nein, finde ich nicht«, antwortete Bouhaddi. »Du bist viel weniger uncool, als du glaubst. Du hast diese Ausstrahlung gar nicht.«
»Diese Ausstrahlung? Du hast wohl zu viel geraucht.«
»Du wirkst gar nicht so korrekt, wie du meinst. Es reicht nicht aus, nur immer wieder den Krawattenknoten zurechtzurücken.«
Jetzt musste Navarro lachen. »Ich verstehe, was du meinst«, entgegnete er. »Kommst du oft hierher?«
»Wenn deine Frage darauf abzielt, ob ich viel rauche, lautet die Antwort nein.«
»Das war nicht meine Frage. Ich weiß ja, dass du nichts trinkst.«
»Mein Problem ist, dass ich mir nicht einfach einen doppelten Whisky einschenken und spüren kann, wie sich vorübergehend eine Ruhe in meinem Körper ausbreitet.«
»Wie gläubig bist du eigentlich? Kannst du nicht einmal ein Glas Wein trinken?«
»Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben Alkohol getrunken«, antwortete Bouhaddi. »Kannst du dir das überhaupt vorstellen?«
»Und du betest fünfmal am Tag in Richtung Mekka?«
»Meine Abstinenz hat gar nichts mit dem Islam zu tun«, antwortete Bouhaddi ruhig, »sondern mit den Grenzen, die man sich für seine eigene Welt setzt. Alkohol hat in meiner Welt nie eine Rolle gespielt. Aber ich fühle mich dennoch gut.«
»Das stellt wohl das Verhältnis der Europäer zum Alkohol in ein anderes Licht«, sagte Navarro. »Man lässt bestimmte Gifte zu, andere werden verboten. Alles hat mit Tradition zu tun. Und nur sehr wenig mit Moral.«
»Willst du mal probieren?«
»Nicht jetzt. Ich will ja nicht noch aufgedrehter werden, als ich es ohnehin schon bin. Und du erschrickst vor deinem eigenen Spiegelbild?«
»Ich fühle mich einsam«, antwortete Bouhaddi. »Ich bin immer allein gewesen und habe mich dabei immer sehr gut gefühlt. Aber jetzt nagt die Einsamkeit an mir. Irgendetwas ist nicht in Ordnung.«
»Und was hat dich heute Abend hierher verschlagen?«, fragte Navarro.
»Ich weiß zwar, dass ich den Rest meines Lebens allein leben werde. Ich bin kein Beziehungsmensch. Es ist auch nicht so, dass ich jemanden vermisse. Aber ich vermisse etwas.«
»Ist das nicht vielleicht dasselbe?«
»Gib doch zu, dass du dich fragst, ob ich noch Jungfrau bin.«
Navarro lachte auf. »Ehrlich gesagt habe ich diesen Gedanken noch nicht einmal in Betracht gezogen«, erklärte er. »Aber jetzt lässt er mich nicht mehr los.«
Bouhaddi lachte ebenfalls und sagte: »Männer.«
»Aber brauchen wir nicht Nähe und Sexualität? Ist das nicht Teil unserer
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