Zorn: Thriller (German Edition)
noch nie ein Agitator, sondern bin immer eher ein introvertierter Denker als eine extrovertierte Meinungsmaschine gewesen. Doch dann kam der Augenblick, in dem mir alles klar wurde, alles so selbstverständlich erschien.
In dem der Gedanke geboren wurde.
Während eines glasklaren Moments habe ich genau gesehen, wie sich Dedas Lebensgeschichte zu der entwickelte, die sie geworden ist. Welche Denkweise den Weg bereitet hat für sein Lebensschicksal.
Und sie existiert immer noch. Sie lebt und gedeiht. Sie wird immer noch akzeptiert und ist eigentlich nie hinterfragt oder gar bestraft worden.
Aus der Rauchwolke über Manhattan und dem grotesken Jubel hat sich Deda erhoben. In dieser miefigen Cafeteria, in der der Fernseher laut lief und sich der Jubel immer mehr steigerte, saß er plötzlich neben mir. Die Rauchwolke der einstürzenden Türme auf dem Fernsehbildschirm vereinigte sich mit dem Rauch von Dedas schwarzem Tabak, der immer über dem alten Schaukelstuhl hing, der so dicht neben dem Bücherregal stand, weil es keinen rechten Arm mehr gab, der Platz benötigt hätte.
Ich kann mir den Schaukelstuhl ohne Tabakrauch gar nicht vorstellen, es gibt ihn einfach nicht, ohne Tabakrauch wäre es vollkommen leer neben dem Bücherregal zu Hause bei Baba und Deda.
Schließlich zeichnete sich Dedas kluges altes Gesicht durch die Rauchschwaden hindurch ab. In der schmutzigen Cafeteria habe ich für einen Augenblick sein prägnantes Vogelprofil gesehen, bevor er sich mir zuwandte und in seiner milden Art fragte: »Hast du mich wirklich vergessen, Lapushka?«
Da hat es begonnen, unbekannter Polizist.
Ihr Problem besteht darin, dass es auch dort enden wird. Sie werden diesen Brief niemals lesen.
Denn es gibt Sie nicht.
Liveübertragung
Den Haag, 20. / 21. Mai
Als Felipe Navarro mit einem Ruck im Lesesessel erwachte, stellte er fest, dass er auf seiner Krawatte kaute.
Überhaupt war er in einem eigenartigen Zustand, er erkannte sich selbst nicht wieder. Eine vage, unergründliche Unruhe riss und zog an ihm.
Es war stockdunkel in der frisch renovierten Dreizimmerwohnung in der Papestraat im Zentrum von Den Haag. Bereits vor einem halben Jahr war seine Ehefrau aus Madrid zu ihm gezogen, aber er hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, nicht mehr allein zu sein. In einem weiteren halben Jahr würde er hingegen keine Sekunde mehr allein sein. Da würde er die Nächte damit verbringen, einen vor Bauchweh schreienden Sohn durch die Wohnung zu tragen, die ihm immer enger vorkommen würde.
Aber vielleicht hatten ja gar nicht alle Babys Verdauungsstörungen?
Er horchte in die Dunkelheit hinein und hörte Felipas leichte Atemzüge vom Schlafzimmer her. Sie schlief immer gut. Hatte nie Albträume, nie Schlafstörungen. Er beneidete sie.
Bislang hatte Felipe auch genügend Schlaf bekommen, doch in den vergangenen Nächten hatte ihn eine starke Unruhe geplagt. Und er begriff nicht, warum. So viel hatte sich doch nicht verändert? Gut, sie würden ein Kind bekommen. Aber das konnte doch nicht der Grund für eine existenzielle Krise sein. Oder doch?
Jedenfalls riss und zog die Unruhe weiter an ihm. Er überlegte, ob er sich zu Felipa ins Bett legen sollte. Sie neben sich zu spüren beruhigte ihn normalerweise. Doch ihm wurde sofort klar, dass es heute nicht helfen würde.
Er schrieb ihr einen Zettel. Falls Felipa wider Erwarten innerhalb der nächsten Stunden aufwachen würde. Die Nachricht würde sie zwar eher beunruhigen, aber er hatte das Gefühl, sich verantwortungsbewusst zu verhalten.
»Liebling«, schrieb er. »Ich kann nicht schlafen. Gehe kurz raus und schnappe ein wenig Nachtluft. Hab das Handy dabei. Küsschen.«
Er verließ die Wohnung.
Die Nacht war ungewohnt dunkel. Keine Sterne am Himmel, kein Mond, und auch die Lichter der Stadt waren erloschen. Als wäre das Universum schlicht und einfach ausgeschaltet worden.
Er machte sich auf den Weg in Richtung Innenstadt, in der Hoffnung, dass dort noch ein wenig Leben wäre. Endlich, auf Höhe der Prinsestraat sah er die ersten Lichter. Er bog rechts in die Straße ein. Hier waren Menschen in kleinen Grüppchen unterwegs. Die eine oder andere Kneipe hatte noch geöffnet. Ein gewöhnlicher Donnerstagabend in Den Haag, vielleicht nicht gerade das Urbanste, was der Erdball zu bieten hatte.
Er schüttelte sein Unbehagen ab.
Als er aufschaute, stand er vor einem Coffeeshop. Irgendjemand dort drinnen winkte ihm durch das schmutzige Fenster zu. Doch er konnte
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