Zorn: Thriller (German Edition)
Herbst, und das mitten im Mai.«
»Dann lass uns mal hören, ehe du noch länger im Regen stehst.«
»Ich bin mit Kommissar Reyes aus Punta Arenas hier, der die Ermittlungen im Mordfall an dem Russen Pavel Morozov im August vergangenen Jahres geleitet hat. Sie mussten sich an Interpol wenden, um Morozov identifizieren zu können. Da er auf der Flucht vor der russischen Justiz war, hatte er keinerlei Papiere bei sich. Im Unterschied zu vielen anderen Gefängnisinseln ist Isla Dawson nicht gerade eine Touristenattraktion, weshalb es einige Tage gedauert hat, bis er gefunden wurde. Morozov war in der südargentinischen Stadt Río Gallegos untergetaucht, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, was er hier wollte, aber in dieser Zelle, in der ich gerade stehe, wurde er tot aufgefunden. Kommissar Reyes filmt das Ganze.«
»Dann also zu der Frage nach dem Grafen von Monte Christo «, sagte Hjelm.
»Das Klima hier ist verdammt rau, wie ihr seht«, begann Hershey und machte eine entsprechende Geste. »Es ist zwar noch kein Jahr her, dass Morozov ermordet wurde, aber ein Zettel hätte in diesen vor Nässe triefenden Wänden nicht mal ein paar Monate unversehrt überstanden.«
»Heißt das, dass du nichts gefunden hast?«
»Na ja«, antwortete Hershey mit einem leichten Lächeln.
»Du hast unsere volle Aufmerksamkeit«, sagte Hjelm streng. »Jetzt übertreib es nicht.«
»Es ist kurz nach neun Uhr morgens Ortszeit«, fuhr Hershey fort. »Reyes und ich haben seit sechs Uhr morgens in den Wänden hier und in nahe gelegenen Gefängniszellen gesucht. Und vor einer halben Stunde haben wir dieses hier oben am Dachfirst in einer angrenzenden Zelle gefunden.«
Hershey hielt ein kleines zusammengerolltes blaues Päckchen in einer Plastiktüte hoch.
»Wachstuch«, erklärte sie. »Fein säuberlich verschlossen.«
»Ich glaube kaum, dass du es eine halbe Stunde lang nicht geöffnet hast«, mutmaßte Hjelm. »Dafür ist deine MI5-Neugier zu groß.«
»Eine korrekte Hypothese«, gab Hershey zu, öffnete die Tüte und zog schließlich einen Zettel aus der Wachstuchrolle hervor. Mit behandschuhten Händen hielt sie ihn in die wackelnde Handykamera.
»Haltet so still wie möglich«, forderte Hjelm. »Alles wird aufgezeichnet.«
»Ich kann ihn jedenfalls schon auswendig«, erklärte Miriam Hershey. »Der Text bedeutet so viel wie: ›Doch ich will diesen Greis und das junge Mädchen nicht vor Schmerz sterben lassen und werde ihnen alles erzählen.‹«
»Vielen Dank, Miriam, sieh zu, ob du dem guten Kommissar noch mehr entlocken kannst, und dann kommst du so schnell wie möglich zurück.«
Miriam Hershey verflüchtigte sich in einem Sturmwind flimmernder Pixel, während Navarro einen anderen Pixelhaufen anklickte, der sich wie die Teile eines Puzzles langsam, aber sicher auf dem Whiteboard zurechtlegte.
Im Kontrast zu der wetterzerzausten Miriam Hershey erschien ein mit Sonnenbrille ausstaffierter Angelos Sifakis. Dabei befanden sie sich auf demselben Kontinent.
»Hier ist Panama«, sagte Sifakis. »Ist es nicht verblüffend, dass Gefängnisinseln oftmals zum Weltkulturerbe ernannt werden?«
»Dafür gibt es eine Erklärung«, antwortete Hjelm. »Sie sind nämlich häufig gut erhalten. Jahrhundertelang Zutritt verboten. Außer für die Leidenden.«
»Und so ist es auch im Falle von Coiba«, bestätigte Sifakis. »Ein wahres Taucherparadies. Es ist früh am Morgen, und ich habe gerade einen der schönsten Sonnenaufgänge meines Lebens gesehen. Obwohl ich Grieche bin.«
»Ja, ich stelle fest, dass du dich in ärmellosem Shirt und Badehose auf einem menschenleeren Sandstrand befindest«, sagte Hjelm. »Wie soll ich das deuten?«
»Dass ich vorhabe, gleich schwimmen zu gehen. Weil ich bereits gestern Abend in dem verlassenen Gefängnis war. Und weil ich auf das Schiff warte, das mich nach Panama City zu einem Treffen mit der dortigen Polizei bringen wird. Außerdem habe ich dies hier bei mir.«
Angelos Sifakis nahm eine kleine Plastiktüte vom Boden hoch, zog sich Latexhandschuhe an und hielt schließlich einen zerknitterten ausgedruckten Zettel in die Kamera, die er offenbar im Sand platziert hatte.
»Ich kann zwar kein Französisch«, sagte er, »aber ihr könnt es euch ja übersetzen lassen.«
»Okay, danke, Angelos«, sagte Paul Hjelm mit einem raschen Blick auf Navarro, der nickte. »Ich habe es gespeichert. War der Zettel in irgendein schützendes Material eingerollt?«
»Ja«, antwortete Sifakis und grub
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