Zorn: Thriller (German Edition)
Corine?«
»Ein wenig«, antwortete Bouhaddi. »Wenn diese neun die einzigen Opfer sind – was keineswegs sicher ist –, gibt es dennoch eine Andeutung dessen, was der Mörder bezweckt. Was geschehen wird, ist bereits angedacht. Vier lächerliche Tage zwischen Capraia und Goli otok. Inzwischen sind weitere vier vergangen. Wird heute Nacht wieder jemand auf einer Gefängnisinsel ermordet?«
»Es gibt keine Hinweise darauf, dass er diese Art von Symmetrie anstrebt«, antwortete Hjelm. »Sonst hat er sich eher viel Zeit gelassen. Zwischen If und Ilha Grande vergeht ein gutes Jahr, dann ein weiteres bis zu Ko Tarutao. Dann mehr als anderthalb Jahre bis zur Teufelsinsel, Île du Diable, je ein gutes Jahr bis Robben Island und Coiba, Panama, und noch ein Jahr bis zur Isla Dawson, Chile. Danach vergehen neun Monate bis zum großen Schlag auf Capraia und Goli otok. Irgendetwas ist vorgefallen, das ist schon richtig – dies hier ist in gewisser Weise der Endspurt –, aber dass ausgerechnet heute Nacht ein neuer Mord passieren wird, glaube ich nicht. Das würde eine Logistik von Gottes Gnaden erfordern.«
»Was ist also im Oktober 2001 hier geschehen?«, fragte Bouhaddi. »Genau hier auf If. Ich habe mich mittels meiner Kontakte in Marseille über den ›Roten Didde‹ informiert. Didier Girault war in Frankreich auf Urlaub und hatte an der Universität Göteborg zwei Wochen vorlesungsfreie Zeit eingetragen. Er fuhr in seinen Heimatort, Avignon, eine der geschichtsträchtigsten Städte überhaupt. 2001 gab es natürlich bereits E-Mail- und Handykorrespondenz, aber die Todesursache wurde damals wie gesagt nicht genauer untersucht, und es sind keine Unterlagen vorhanden. Girault verbrachte die vorlesungsfreien Wochen zu Hause bei seiner Mutter in Avignon, hundert Kilometer nördlich von hier, und wir wissen nicht, aus welchem Grund er auf If landete.«
»Alles deutet darauf hin, dass er hergelockt wurde«, sagte Hjelm. »Aber von wem?«
»Hier kommt das Zitat ins Bild«, erklärte Bouhaddi. »›Und jetzt‹, sagte der unbekannte Mann, ›lebt wohl, Güte, Menschenfreundlichkeit, Dankbarkeit ... lebt wohl, ihr sämtlichen Gefühle, die das Herz aufgehen lassen! ... Ich habe mich an die Stelle der Vorsehung gesetzt, um die Guten zu belohnen ... Jetzt möge der Gott der Rache mir sein Amt abtreten, um die Bösen zu bestrafen!‹ Ein mit Bedacht ausgewähltes Zitat. ›Und jetzt‹ bezeichnet einen deutlichen Anfang, ›sagte der unbekannte Mann‹ soll seine eigene Unbekanntheit hervorheben, ›lebt wohl‹ an alle guten Eigenschaften ist klar – ganz zu schweigen von ›Jetzt möge der Gott der Rache mir sein Amt abtreten, um die Bösen zu bestrafen!‹«
»Alles ist glasklar«, stimmte Paul Hjelm zu. »Alles, außer, wer er ist.«
»Ein Jahr später schreibt er in Brasilien, auf der Ilha Grande: ›Ich für meine Person fühle mich nicht fähig, noch länger solche Geheimnisse zu tragen, ohne die Hoffnung, bald die Rache für die Gesellschaft und für die Opfer zu erleben.‹ Das, was der unbekannte Mann rächt, sind also Geheimnisse, die er selbst mit sich herumträgt? Und sowohl die Gesellschaft als auch die Opfer müssen gerächt werden? Ich frage mich, ob wir uns nicht etwas eingehender mit den ersten beiden Opfern befassen sollten.«
»Du meinst, mit der Frage, wer sie waren?«, vergewisserte Hjelm sich und nickte. »Ich verstehe. Akademiker. Universitätsdozent.«
»Der französische Philosoph und der italienische Soziologe. Zwei kommunistische Professoren, Didier Girault und Giorgio Sansotta, die ihre Irrlehren in fremden Ländern wie Schweden und Brasilien verbreitet haben. Dann folgen Politiker und Journalisten – aber er beginnt mit Akademikern. Danach ermordet er keine weiteren Akademiker.«
»Denn da hat der Mörder die Akademikerlaufbahn bereits verlassen«, meinte Paul Hjelm. »Das allererste Zitat. Bislang hat sich der unbekannte Mann ›Gefühlen‹ gewidmet, ›die das Herz aufgehen lassen‹ – Güte, Menschenfreundlichkeit –, aber die angenehme Atmosphäre ist vergiftet worden, sie existiert nicht mehr. Deshalb muss jetzt die Rache an ihre Stelle treten, und das Geheimnis, das der unbekannte Mann so lange gehütet hat, muss enthüllt werden.«
»Ja«, pflichtete Corine ihm atemlos bei. »Wenn wir uns die Zeichnung von dem Mann mit dem Schnauzbart vor Augen halten – Frau oder Mann – und zehn Jahre abziehen, dann haben wir es mit einer Person von gut zwanzig Jahren zu
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