Zorn: Thriller (German Edition)
schwierig für uns. »Rimbaud« war untergetaucht, wenn auch nicht als Sklavenhändler wie der echte Rimbaud. Wie sollten wir ihn nun ausfindig machen? Und was hatte er vor?
Wir mussten uns wieder den Grundlagen zuwenden. Seine existenziellen Antriebskräfte suchen. Und natürlich war das Treffen mit »diesem Mann«, Udo Massicotte, Antriebskraft für sein Handeln. Bedauerlicherweise hat unser Auftraggeber die Informationen etwas knapp gehalten. Doch als wir schließlich das ganze Bild vor Augen hatten, stellten wir fest, dass W schon bei diesem Treffen über die Existenz der damaligen Organisation des Auftraggebers informiert worden war, die wir nachfolgend Sektion nennen. Als wir uns Klarheit über das Ziel der Sektion, den Auftraggeber und die Finanziers verschafft hatten, wurde deutlich, dass wir in dieser Richtung weitersuchen mussten. Ws Hass auf die Sektion war bei ihm also schon im Alter von fünfzehn Jahren entfacht worden – auch wenn er noch keine Ahnung davon hatte, wozu sie genau diente.
Wir gehen davon aus, dass dieser Hass die treibende Kraft für alles ist, was er ab jetzt unternimmt, sogar für den Muttermord.
Während seiner ersten Jahre in den USA dürfte W auf eine erste Spur der Sektion gestoßen sein. Aus diesem Grund taucht er unter.
Wir sahen uns also gezwungen, die Mitglieder, Finanziers und den Auftraggeber der Sektion genauer unter die Lupe zu nehmen, um festzustellen, ob kurz nach dem Jahrtausendwechsel irgendwelche Veränderungen eingetreten waren. Dies erwies sich jedoch sowohl als Herkules- als auch als Sisyphousarbeit. Da die Sektion streng geheim war, hatte W vermutlich versucht, sich anonym Zugang zu verschaffen, was ihm höchstwahrscheinlich über die Finanziers gelungen war. Der Großteil der Gelder der Sektion stammte, wie allgemein bekannt, aus staatlichen beziehungsweise internationalen Mitteln, aber es gab auch externe Finanziers, hauptsächlich diverse nordamerikanische Kreditinstitute. Ein halbes Jahr nachdem der frischgebackene amerikanische Staatsbürger William Bernard – ein Name, der auf Französisch ebenso gut funktioniert wie auf Englisch – verschwunden ist, wird ein Mann in ungefähr demselben Alter bei einer Investmentbank in New York angestellt. Sein Name lautet Walter Thomas, und binnen eines Jahres ist dieser junge Mann zum Assistenten einer der Bankdirektoren aufgestiegen.
Lassen Sie uns dort einen Augenblick innehalten und den Namen eingehender betrachten. Als W sich nicht mehr Berner-Marenzi nennt, nimmt er den Namen Waltier Petit alias Rimbaud an. Als er ein paar Jahre später von Monaco aus ein Onlinespiel-Unternehmen gründet, nennt er sich William Bernard. Und als er Assistent eines der externen Finanziers der Sektion wird, nennt er sich Walter Thomas. Petit, Bernard und Thomas gehören zu den häufigsten Nachnamen in Frankreich, und sie funktionieren außerdem ebenso gut als amerikanische Namen. Man kann also annehmen, dass W zu diesem Zeitpunkt zumindest zwei Staatsbürgerschaften besitzt, die amerikanische und die französische.
Denn Walter Thomas ist definitiv unser W. Klassisches Beispiel für eine gestohlene Identität, professionell eingefädelt und im Normalfall nicht aufzudecken.
Die Geschichte von Walter Thomas ist kurz. Ein gutes halbes Jahr nach seiner Beförderung zum Chefassistenten der Investmentbank Antebellum Invest Inc. fallen die Twin Towers. Die Büros von Antebellum befinden sich auf mehreren Stockwerken im Nordturm des World Trade Center. Als das Flugzeug am 11. September 2001 in den Turm einschlägt, hat Walter Thomas Urlaub, da sich sein Chef, der Bankdirektor Colin B. Barnworth, auf den Bahamas befindet. Walter Thomas wird kurz von der Polizei vernommen und sagt aus, es habe seit Langem festgestanden, dass Barnworth zu diesem Zeitpunkt Urlaub nehmen würde. Doch in den Tagen und Wochen nach Nine-Eleven herrscht bekanntlich ein gigantisches Chaos. Als Colin B. Barnworth von den Bahamas zurückkehrt, um Antebellum Invest Inc. wiederaufzubauen, ist Walter Thomas spurlos verschwunden.
Wir dürfen annehmen, dass W befürchtet hat, noch einmal eingehender befragt zu werden. Doch dies muss nicht der einzige Grund für sein Untertauchen gewesen sein. Es ist auch möglich, dass ihn bereits das Jahr, das er in den Twin Towers verbrachte, näher an die Mitglieder der Sektion herangeführt hat. Nicht zuletzt an ihren Chef, unseren Auftraggeber.
Es vergehen ein paar Jahre, bis W erneut eine Spur hinterlässt. Die Zeit bis dahin hat er
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