Zorn: Thriller (German Edition)
wieder, bis sie starben.«
»Und welchen Repressionen waren sie ausgesetzt gewesen?«
»Meine Eltern waren Akademiker und fühlten sich täglich in ihrer intellektuellen Freiheit eingeschränkt. Als sie schließlich flüchteten, war der Schaden, den sie genommen hatten, bereits irreversibel. Ihre Seelen waren wirklich eindimensional geworden.«
»Aber sie waren niemals irgendwelchen drastischeren Strafen ausgesetzt gewesen?«
»Nein. Im Unterschied zu anderen Verwandten.«
»Anderen Verwandten?«
Marina Ivanova legte ihren Kopf in den Nacken und richtete den Blick zur Decke. Dann antwortete sie: »Mein Russisch ist inzwischen ziemlich schlecht. In meiner Jugend hatte ich kein Interesse daran, es zu bewahren. Aber zwei Worte sind hängen geblieben. Großmutter und Großvater.«
»Großmutter und Großvater?«
»Baba«, antwortete Marina Ivanova. »Und Deda.«
»Wird es Ihnen nicht allmählich zu ungemütlich, Corine?«
Die Reflexionen des Sonnenlichts vom Papstpalast waren in der Tat bedeutend blasser geworden, der Palast lag inzwischen fast im Schatten, aber Bouhaddi hatte nicht das Gefühl, dass es kälter geworden wäre. Es war immer noch ein warmer Frühsommerabend in der Provence. Mit das Beste, was es auf der Welt gab.
»Nein, mir nicht«, antwortete sie und warf der Vogelgestalt neben sich einen Blick zu. »Aber Madame friert vielleicht?«
»Mit so etwas habe ich längst aufgehört«, schnaubte die alte Dame und goss sich noch etwas Pastis ein, den sie mit einigen Tropfen Wasser verdünnte, sodass der gelbliche Anisschnaps opalisierte – wie man es nennt, wenn der Alkohol trübe wird, woran sich Bouhaddi aus unerklärlichen Gründen erinnerte.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch etwas möchten?«, fragte Madame Girault und wies auf die Kristallkaraffe.
»Ich bin Muslimin«, antwortete Corine Bouhaddi. »Ich trinke keinen Alkohol.«
Madame Girault lächelte und warf einen Blick in Richtung der Balkontür. Erneut hielt der Polizeizeichner den Entwurf einer Skizze hoch. Die alte Dame schüttelte diskret den Kopf.
»Wissen Sie, Corine«, sagte sie. »Ich glaube, dass Sie keinesfalls hergekommen sind, damit ich ein lächerliches Porträt anfertigen lasse. Ich glaube, Sie sind gekommen, weil ich Ihnen verlässlich erschien und mich wahrscheinlich an mehr erinnern kann, als ich dachte. Ich glaube, Sie sind hergekommen, um mir weitere Informationen zu entlocken.«
Bouhaddi lachte laut und entgegnete: »Aber dafür muss ich auch geahnt haben, dass Madame mich durchschauen würde.«
»Etwas kompliziert, das muss ich zugeben«, sagte Madame Girault und lächelte. »Und nennen Sie mich nicht Madame. Mit so etwas habe ich nämlich ebenfalls längst abgeschlossen.«
»Ich bin noch immer an diesem Seitenblick interessiert«, sagte Bouhaddi. »War es wirklich schlechtes Gewissen? Nicht Hass?«
»Hm«, meinte Madame Girault. »Überraschender Themenwechsel, das gefällt mir. Nein, es war kein Hass. Niemals Hass. Eher Angst. Und, ja, schlechtes Gewissen.«
»Versagensangst?«
»Jetzt, Corine, stellen Sie aber zu hohe Ansprüche an die zehn Jahre alte Erinnerung an einen flüchtigen Seitenblick.«
»Ich gestatte mir anzunehmen, dass dies nicht der Fall ist. Denn Sie wissen, was für ein Blick es war. Sie wollen es aus einem bestimmten Grund nur nicht sagen.«
»Ich habe natürlich keine Beweise dafür«, entgegnete Madame Girault, »nur meine Lebenserfahrung. Aber ich würde sagen, dass sie von der Erinnerung an denjenigen heimgesucht wurde, den sie gerade hinterging.«
»Hinterging?«, fragte Bouhaddi.
»Didier war es gewöhnt, Angélique zu hintergehen. Er hatte kein schlechtes Gewissen. Aber ich bin davon überzeugt, dass seine junge Freundin zum ersten Mal in ihrem Leben untreu war. Diese Art von Blick habe ich gesehen.«
»Sie meinen ...?«
»Ja«, antwortete Madame Girault. »Ich bin mir sicher, dass Didiers kleine Freundin zu Hause in Schweden einen Verlobten hatte.«
Als Marina Ivanovas Blicke zum dritten Mal in dieselbe Richtung wanderten, war die Sache für Kerstin Holm klar. Zweimal ist keinmal, möglicherweise auch dreimal. Aber nicht viermal. Der Blick richtete sich auf ihr Handgelenk. Auf ihre Armbanduhr.
Kerstin Holm warf selbst einen Blick auf die Uhr an der Wand des Vernehmungsraums und stellte fest, dass sie sich mit riesigen Schritten einundzwanzig Uhr näherte.
»Als Kind ließen Sie sich von der strikten antisowjetischen Haltung Ihrer Eltern anstecken?«, begann sie
Weitere Kostenlose Bücher