Zorn: Thriller (German Edition)
Eindruck?«
»Verliebt und beeindruckt, sehr jung und unschuldig. Und sie schien irgendwie bedrückt zu sein. Als hätte sie ein schlechtes Gewissen.«
»Wie äußerte sich das?«
»Tja«, antwortete Madame Girault und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht durch Seitenblicke.«
Corine Bouhaddi richtete sich auf dem äußerst unbequemen kleinen Balkonstuhl auf und fragte: »Man könnte also sagen, dass diese Seitenblicke nicht ganz so verliebt waren wie die direkten Blicke?«
Madame Girault betrachtete die groß gewachsene dunkle Frau eine Weile. Schließlich antwortete sie: »Das könnte man so sagen.«
Arto Söderstedt schaute Jorge Chavez an. Jorge Chavez schaute Arto Söderstedt an. Dann richteten sie ihre Blicke wieder auf den Venezianischen Spiegel und in den Vernehmungsraum.
Im Vernehmungsraum saßen Kerstin Holm und Sara Svenhagen. Auf der anderen Seite des Tisches saß Dozentin Marina Ivanova. Ihre Augen waren noch immer auffallend verengt. Und ihre Konzentration allem Anschein nach maximal.
»Sollen wir alles noch einmal durchgehen?«, fragte Kerstin Holm.
»Es spielt sowieso keine Rolle«, antwortete Marina Ivanova mit deutlichem Göteborger Alt. »Ich weiß zwar nicht, wessen ich beschuldigt werde, aber was auch immer es sein mag, ich bin unschuldig.«
»Wir kommen gleich auf die Anklageaspekte zu sprechen«, erläuterte Holm. »Einen Anwalt möchten Sie nach wie vor nicht hinzuziehen?«
»Ich sehe keinen Grund, mir einen Anwalt zu nehmen«, antwortete Ivanova.
»Dann gehen wir die Fragen noch einmal durch«, entschied Kerstin Holm und wandte sich Sara Svenhagen zu, die übernahm: »Wo waren Sie während Ihres zweiwöchigen Urlaubs, aus dem Sie am gestrigen Montag zurückgekehrt sind?«
»Ich bin, wie gesagt, in Europa herumgereist«, antwortete Ivanova knapp.
»Ohne irgendeinen Beleg aufzubewahren? Ohne ein einziges Flug- oder Zugticket aufgehoben zu haben?«
Marina Ivanova beugte sich über den Tisch und sagte mit Nachdruck: »Das Leben findet im Hier und Jetzt statt. Viel zu viele Menschen leben in einer erträumten ungetrübten Zukunft oder einer noch ungetrübteren vergoldeten Vergangenheit.«
»Womit Sie sagen wollen, dass Sie niemals zurückschauen?«
»Was sollte das bringen? Meine gesamte aktuelle Forschung ist darauf ausgerichtet, eine philosophisch konsequente Lebensform im Hier und Jetzt zu entwickeln, und zwar ausschließlich im Hier und Jetzt.«
»Sie vertraten also früher einmal eine andere Ansicht?«, fragte Holm.
»Ja, ich habe zu zukunftsorientiert gelebt.«
»Und auch vergangenheitsorientiert?«
»In gewisser Weise schon. Allerdings nicht so stark.«
»Der Graf von Monte Christo handelt ja in höchstem Grad von der Vergangenheit. Von Rache für Vergehen in der Vergangenheit.«
»Aber in höherem Maße davon, eine Gesellschaft umzustrukturieren und sie auf Veränderungen vorzubereiten«, erklärte Ivanova.
»›Die unbewusste revolutionäre Struktur im Grafen von Monte Christo ‹«, zitierte Holm.
Marina Ivanova schaute sie an und sagte nach einer Weile: »Möglicherweise mag man annehmen, dass Dumas’ Buch von einem einsamen Rächer handelt. In meiner Abhandlung habe ich jedoch versucht aufzuzeigen, dass es um viel mehr geht. Nämlich um die Bildung eines aktivistischen Bewusstseins.«
»Ihre Eltern sind aus der Sowjetunion geflüchtet, nicht wahr?«
»Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Sie haben doch behauptet, nicht einmal zu wissen, um welche Sache es geht ...«
»Das stimmt. Sie müssen mich endlich darüber aufklären, wessen man mich beschuldigt. Sind Sie eine Art Gesinnungspolizei? Ist es also schon so weit gekommen?«
Es war das erste Mal, dass Kerstin Holm eine Gefühlsregung bei ihr beobachtete. Sie gestattete sich, einen Augenblick darüber nachzudenken.
Sara Svenhagen registrierte es. Sie begriff, dass Kerstin Holm auf etwas Bestimmtes hinauswollte, und war äußerst neugierig, welchen Weg sie wählen würde. Also schwieg sie.
»Wie die Gesinnungspolizisten in der Sowjetunion?«, fragte Holm schließlich.
»Ich bin mit diesem Gerede aufgewachsen«, antwortete Ivanova.
»Gerede?«, fragte Kerstin Holm nach.
»Wie schrecklich alles in der Sowjetunion war.«
»Und Sie sind es leid?«
»Meine Eltern sind aus der Sowjetunion geflohen, als ich drei Jahre alt war, um sich eine bessere Zukunft aufzubauen. Aber sie waren nicht in der Lage, an die Zukunft oder die Gegenwart zu denken. Sie käuten nur die Vergangenheit
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