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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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gewöhnt man sich daran. Es ist wie bei einer schweren Erkältung. Man weiß, dass es ein, zwei Wochen weh tun wird, aber man weiß auch, dass es danach vorbei ist.«
    »Du redest wie ein verbitterter, alter Mann, weißt du das?«
    »Ich bin alt, Malina, uralt, ich bin zweiundvierzig.« Zorn lächelte. »Aber verbittert bin ich nicht.«
    Oder doch?, überlegte er und langte nach seiner Zigarettenschachtel. Dabei fiel sein Blick auf ihre nackten Beine. Sie waren schlank und sehnig, und sie gefielen ihm. Er hielt in der Bewegung inne, schluckte und sah zur Seite.
    Sie setzte sich auf und legte den Kopf ein wenig schief. »Ist was?«
    O Gott, dachte er, ich kann ihr ja schlecht sagen, dass ich ihr die ganze Zeit auf die Beine starre. Er kratzte sich im Nacken und stand auf. »Möchtest du noch Wein?«
    »Ich hab noch.« Sie hob ihr volles Glas.
    Zorn sank zurück in seinen Sessel. Bisher war alles so einfach gewesen, er hatte geredet, ohne nachzudenken, was er da sagte. Und jetzt? Sie wird bald gehen, überlegte er. Ich muss irgendwas tun. Aber was? Scheiße, ich werd nie lernen, wie man so was macht.
    Malina saß auf dem Sofa, nicht mehr als einen guten Meter entfernt. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu berühren, er musste sich nur ein wenig vorbeugen, mehr nicht. Er konnte sich auch zu ihr setzen, dazu musste er nur um den Couchtisch herumgehen, das waren zwei, höchstens drei Schritte. Doch es kam ihm vor, als müsse er dazu Welten durchqueren. Von einem Moment auf den anderen saß sie in einem anderen Universum.
    »Was ist mit ihnen?«
    »Was? Mit wem?«
    »Mit meinen Beinen.«
    »Was?« Zorn wurde rot wie ein Teenager, der im Supermarkt zum ersten Mal beim Klauen erwischt wird. »Was soll mit deinen Beinen sein?«
    »Du hast sie angestarrt.«
    »Hab ich nicht.«
    Sie sah ihn prüfend an, während er zu Gott betete, sie möge ihm seine Verlegenheit nicht anmerken. Er wusste, dass es sinnlos war. Dieser alte, weißbärtige Trottel war nie da, wenn man ihn brauchte.
    Dann klopfte Malina mit der flachen Hand neben sich auf das Sofa. »Komm her, Claudius.«
    »Was?«
    »Wenn du das noch einmal sagst, schreie ich. Komm jetzt her.«
    Er stand auf, stieß sich das Schienbein am Tisch und war froh, dass wenigstens die Weinflasche nicht umkippte. Irgendwie schaffte er es, sich neben sie zu setzen.
    Er spürte, wie sich in seinem Magen ein Kloß bildete. Jetzt, überlegte er, lege ich gleich meinen Arm um sie. Ich muss nur noch einmal kurz tief durchatmen. Nein, ich zähle bis zehn, dann tu ich’s.
    Als er bei sieben angekommen war, sah Malina ihn an. Ihre Augen waren dicht vor ihm, jetzt, aus der Nähe, konnte er sich erst recht nicht für eine Farbe entscheiden, es schienen alle gleichzeitig zu sein. Er bemerkte ihre Ohrringe, kleine, glänzende Sterne an silbernen Ketten. Sah die mageren Schultern, das Pochen einer Ader an ihrem Hals. Den zarten Flaum an ihrem Ohr.
    »Würdest du mir jetzt bitte dein Bett zeigen?«
    Aber natürlich, wollte Zorn sagen, mit dem größten Vergnügen. Brachte aber nur ein Krächzen zustande und musste sich mit einem stummen Nicken begnügen.
    Sie nahm seine Hand. »Dann komm.«
    Danke, lieber Gott, dachte Zorn.
    Morgen zünde ich dir eine Kerze an. Vielleicht.
    *
    Es war zwei Uhr morgens, als Mirko Stapic vor seiner Bar stand und in den Taschen nach seinem Schlüssel kramte. Er blieb immer bis eine Stunde nach Ladenschluss, in dieser Zeit machte er die Abrechnungen und den lästigen Papierkram, der sich tagsüber angesammelt hatte. Das war nicht sonderlich viel, in der letzten Zeit waren die Umsätze stark zurückgegangen. Die Menschen hatten nichts zu feiern an ihrem Feierabend. Sie tranken zu Hause, allein womöglich.
    Die Uhr am Turm der Marktkirche schlug zweimal, einsame, spröde Töne, die seltsam fehl am Platze wirkten. Tagsüber, wenn sich der Verkehr durch die enge Gasse quälte, war nichts davon zu hören. Jetzt war es hier still, bis auf das Rauschen des Regenwassers in den überfüllten Gullys und ein blechernes Plärren, das aus dem alten Mietshaus gegenüber der Bar drang. Eine siebzigjährige, schwerhörige Frau schlief in ihrem Sessel, während aus einem großen Fernseher eine Quizshow in voller Lautstärke durch das angekippte Fenster auf die Straße dröhnte.
    Stapic schimpfte leise, als er den Schlüssel nicht sogleich fand. Von links näherte sich ein junges Mädchen, das auf hohen Absätzen Richtung Markt hastete. Sie achtete nicht auf den großen, grauhaarigen

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