Zorn - Tod und Regen
den Sessel zurück und legte die Beine auf den Schreibtisch. »Eins würde mich noch interessieren: Wie bist du eigentlich auf den Gedanken gekommen, ins Krankenhaus zu fahren und die Schwester zu befragen?«
Schröder griff sich mit dem Zeigefinger an die Nase und lächelte. »Intuition, Chef.«
»Hör auf mit dem Scheiß, oder ich lass dich an die Pforte versetzen.«
»Selbstverständlich.« Schröder schlug militärisch die Hacken zusammen.
Zorn winkte gnädig ab: »Ich geb’s ungern zu, aber es war eine gute Idee.«
»Die uns leider nicht viel weiterbringt. Wir wissen zwar, dass Mahler seine Tochter nicht abgeholt hat, aber wer an seiner Stelle dort war, werden wir so schnell nicht herausbekommen.«
»Ich denke, ihr lasst gerade ein Phantombild anfertigen?«
»Wir haben’s versucht. Es bringt nichts.«
»Wieso?«
»Die Krankenschwester ist Prosopagnostikerin.«
»Wenn du mich wieder veralbern willst, dann …«
»Nein, Chef. Sie kann sich keine Gesichter merken.«
»Ach!«
»Es ist eine angeborene Krankheit, irgendein genetischer Defekt. Die Menschen haben Schwierigkeiten, ein Gesicht einem Menschen zuzuordnen. Geschweige denn, sich etwas davon zu merken.«
»Und ausgerechnet die einzige Person, die uns im Moment weiterbringen würde, hat diesen Mist?«
Schröder zuckte die Achseln. »Ja. Die Krankenschwester hat bisher selbst nicht gewusst, dass sie daran leidet. Sie hat sich die ganze Nacht gequält, bis unser Techniker den Verdacht geäußert hat. Als ob sie nicht schon genug gestraft wäre.«
»Wie meinst du das?«
»Sagen wir mal, sie ist von eher unvorteilhaftem Äußeren, die Arme.«
Zorn warf einen kurzen Blick auf Schröders gedrungene Gestalt, das rötliche, schräg über die Glatze gekämmte Haar, und setzte zu einer Bemerkung an, die er sich dann aber verkniff.
»Außerdem«, fuhr Schröder fort, »hat sie ziemlichen Ärger zu erwarten. Schließlich hätte sie den Mann überprüfen müssen, bevor sie ihm einfach ein Kind überlässt.«
»Mein Mitleid hält sich in Grenzen«, murmelte Zorn und spürte einen Hauch Resignation in sich aufsteigen. Es ist unglaublich, dachte er. Erst fallen die Kameras am Bahnhof aus, und jetzt haben wir eine Zeugin, die keine ist. Was soll das? Ist es Zufall? Oder pfuscht uns da jemand ins Handwerk?
Während er noch überlegte, ob dies möglicherweise Gott, der Teufel oder dessen Großmutter sein könnte, klopfte es kurz, und Frieda Borck steckte den Kopf zur Tür herein. Sie schnüffelte, verzog angeekelt das Gesicht, ging wortlos an Zorn vorbei zum Fenster und riss es sperrangelweit auf. Eine kalte, regengetränkte Böe fegte durchs Zimmer und wehte einige Papiere vom Schreibtisch.
Zorn warf der Staatsanwältin einen verdatterten Blick zu, während Schröder sich behutsam in die Ecke neben der Tür zurückzog.
»Es reicht«, sagte sie barsch. »Sie halten sich ans Rauchverbot, oder Sie bekommen eine Beschwerde, die sich gewaschen hat. Dies ist ein öffentliches Gebäude, hier gibt es Regeln, und die gelten auch für Sie, Herr Hauptkommissar.« Wütend riss sie Zorn die Zigarette aus der Hand, drückte sie heftig im Aschenbecher aus und warf diesen dann in den Papierkorb, wo er in tausend Stücke zerschellte. »Und nehmen Sie verdammt nochmal die Beine vom Tisch, wenn ich mit Ihnen rede!«
Zorn wusste nicht, wie ihm geschah. Jetzt ist sie gerade mal einen Tag hier, und schon wird sie Sauer immer ähnlicher, dachte er. Wenn sie so weitermacht, baumelt sie irgendwann an der Marktkirche.
Im nächsten Augenblick fragte er sich, warum ihm ausgerechnet in den unmöglichsten Situationen solch unpassende, pietätlose Gedanken durch den Kopf gingen. Zum Glück, überlegte er dann, habe ich’s nicht laut ausgesprochen. Er nahm erst den einen, dann den anderen Fuß vom Tisch und begnügte sich mit einem Grinsen, das er für überlegen hielt. In Wahrheit jedoch fiel es ausgesprochen dümmlich aus.
Frieda Borck stand mit verschränkten Armen da und sah wütend auf Zorn hinab. Dann warf sie den Kopf zurück, lief ein paarmal auf und ab und versuchte offensichtlich, sich zu beruhigen. Ihre Absätze klapperten laut auf dem zerschrammten Linoleum.
»Sie haben den Barbesitzer zur Vernehmung einbestellt?«
»Nun ja«, erwiderte Zorn, »wir sollten auf jeden Fall mit ihm sprechen. Oder halten Sie ihn für verdächtig?«
Frieda Borck zuckte die Achseln. »Ich würde diesen Gesichtspunkt jedenfalls nicht außen vor lassen. Wer übernimmt die
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