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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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einen großen Bogen. Der Deich, der das Zentrum und die tiefer liegenden Gebiete schützen sollte, war mit hellen Sandsäcken verstärkt worden, die sich in schier endloser Kette aneinanderreihten.
    Auf der Kuppe befand sich ein Radweg, der Asphalt glänzte feucht im abendlichen Dunst. Links, einen halben Meter unterhalb der Dammkrone, schoss das Wasser dahin, im Licht der Laternen wirkte es dunkel, fast schwarz. Abgestorbene Äste, Bretter und Papierfetzen trieben vorbei. Dazwischen schwamm ein Spielzeugauto aus rotem Plastik, das sich, mit den Rädern nach oben, langsam um sich selbst drehte. Kurz darauf war es hinter der Biegung verschwunden.
    Rechts zog sich die mit Gras bewachsene Flanke des Dammes sanft nach unten und mündete auf einer Wiese, die im Sommer viel besucht wurde, jetzt aber verlassen in der Dämmerung lag. Nebelschleier trieben zwischen den leeren Bänken, von den Papierkörben troff das Wasser. Ein einsamer Jogger keuchte über den Kiesweg, sein Atem zog in einer weißen Wolke hinter ihm her.
    Auf dieser Seite, ziemlich genau auf halber Höhe des Dammes, wuchs eine Trauerweide, deren Wurzeln sich tief in das Erdreich gruben. Sie war vielleicht fünf Meter hoch, die weit ausladenden Äste schwangen kurz über dem Boden in der abendlichen Brise.
    Ein heftiger Windstoß erfasste die Krone und drückte die Weide zur Seite. Ihre Wurzeln fanden immer weniger Halt in der durchweichten Erde, und so begann der Baum, sich unmerklich ein Stück zur Seite zu neigen, stand dann aber wieder still. Der Damm hielt.
    Doch oben auf dem Radweg knackte es leise.
    Plötzlich erschien ein haarfeiner, gezackter Riss im Asphalt.
    Langsam, ganz langsam wurde er breiter.
    *
    »Und? Was sagst du?« Mahler leuchtete nach oben. »Beeindruckend, oder?«
    Zorn nickte widerwillig. Der Tunnel mündete in einer kreisrunden, ebenfalls aus Backstein gemauerten Halle, deren Decke sich kuppelförmig über ihnen erstreckte. An ihrer höchsten Stelle betrug der Abstand zum Boden mindestens zehn Meter, Zorn schätzte den Durchmesser auf das Doppelte. Er zählte acht ovale Gänge, die sternförmig von dort abgingen, sie sahen alle gleich aus, knapp mannshohe, gähnende Löcher. Als er sich einmal umgedreht hatte, wusste er nicht mehr, durch welchen sie soeben gekommen waren. Er hatte die Orientierung verloren.
    »Wir sind fünfzehn Meter unter der Erde, genau unter dem alten Wachturm.« Mahler ging zur Wand und klopfte dagegen. Ein pappiges, trockenes Geräusch. »Das sind die Fundamente, bestimmt zwei Meter dick.«
    Zorn erinnerte sich an den Optiker, vor dem er Mahler getroffen hatte. Das Geschäft musste fast direkt über ihnen sein. Wie lange war das jetzt her? Drei Tage? Wie spät war es jetzt eigentlich? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
    Das Zifferblatt seiner Uhr leuchtete grün in der Dunkelheit. Dreiviertel sieben. Sie waren nicht einmal seit einer Stunde hier unten.
    Ein Luftzug wehte durch die Halle und erzeugte ein hohes, klagendes Jaulen.
    »Die Tunnel wirken wie Schornsteine«, erklärte Mahler. »Ein paar von ihnen sind eingestürzt, man kann nur ein Stück hinein. Andere führen kilometerweit unter die Stadt, ich habe längst nicht alle erkundet. Der hier«, er wies auf einen Gang, der direkt vor Zorn abzweigte, »führt hinunter zum Fluss. Man kommt nicht weit, er steht zur Hälfte unter Wasser. Hörst du das?«
    Zorn lauschte. In der Ferne war ein Rauschen zu vernehmen, ein fauliger Geruch schlug ihm entgegen.
    Er hatte Kopfschmerzen und spürte, dass dies nicht allein vom Sturz herrührte. Seine Stirn war heiß, der Hals tat ihm weh. Er bekam Fieber. Na ja, dachte er, da laufe ich mit nassen Haaren und feuchtem Hintern durch diese Katakomben und muss mich nicht wundern, wenn ich mir hier den Tod hole. Obwohl – den Tod? Irgendwie war er sicher, dass Mahler ihm nichts tun würde. Er hatte ihn nicht hierher gebracht, um ihn dann zu erschießen. Nein, überlegte Zorn, das ergibt keinen Sinn. Seine Nase kribbelte, dann musste er heftig niesen. Es klang wie eine Explosion, deren Echo laut von den Wänden widerhallte.
    »Gesundheit«, sagte Mahler.
    »Danke, du mich auch«, schniefte Zorn und wischte sich mit dem Jackenärmel die Nase ab.
    »Du brauchst eine Decke.« Mahler bückte sich und verschwand in einem der Gänge. »Komm mit.«
    Zorn ging ihm nach. Er sah einen zerknüllten Schlafsack, auf dem Boden standen Kerzen und ein Campingkocher, in die Wand war ein Nagel eingeschlagen, ein altes Kofferradio hing

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