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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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überhaupt begriffen hatten, was da passiert war, hatte Sivo die Sache in die Hand genommen. Er kann sehr überzeugend sein, Claudius. Und er hat damals sofort gewusst, dass er uns damit für den Rest unseres Lebens in der Hand haben würde.«
    »Hatte er das denn?«
    »Sauer ist einen Monat später entlassen worden, bei mir hat es noch ein halbes Jahr länger gedauert. Das tote Mädchen habe ich nie vergessen, glaub mir. Aber Sauer und der Kroate waren irgendwann raus aus meinem Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass Sivo sich noch mal melden würde.«
    »Wann war das?«
    »Vor einem Monat ungefähr, es war ein Samstag. Wir saßen beim Frühstück, als er angerufen hat.«
    Mahler lehnte den Kopf an die Wand und schloss einen Moment die Augen.
    Erinnerst du dich noch an das, was ihr damals im Wald vergraben habt? Ich sagte, irgendwann würde ich euch vielleicht um einen Gefallen bitten. Jetzt ist es so weit, Jungchen.
    Zorn fuhr sich mit der Hand über die verschorfte Stirn. Die Wunde tat immer noch weh, er spürte, dass sich eine dicke Beule bildete.
    »Was war das für ein Gefallen?«, fragte er.
    »Das hat er nicht genau gesagt. Er wollte, dass ich ihm bei irgendeiner Sache helfe.«
    »Warum bist du diesmal nicht zur Polizei gegangen?«
    »Was hätte ich sagen sollen? Dass ich vor knapp zwanzig Jahren eine junge Serbin überfahren habe?« Wieder stieß Mahler dieses bittere Lachen aus. »Sorry, Leute, ich war total besoffen, und weil ich Angst hatte, haben wir sie mal eben im Wald verbuddelt? Ich habe mich geschämt, Claudius. Und ich wollte nicht, dass Clara und die Kinder davon erfahren.«
    »Aber du hast dich geweigert, ihm zu helfen?«
    »Ich habe ihm gesagt, dass er mich gepflegt am Arsch lecken kann.«
    »Und bei Sauer hat er sich auch gemeldet?«
    Mahler nickte.
    »Okay«, erwiderte Zorn. »Was Sivo von Sauer wollte, habe ich verstanden. Für den Staatsanwalt stand wesentlich mehr auf dem Spiel als für dich, deshalb hat er ihm geholfen. Er sollte die Ermittlungen im Mordfall Sigrun Bosch verschleppen und die Akten frisieren. Aber warum?«
    »Kannst du dir das nicht denken?«
    Zorn ahnte, was jetzt kommen würde.
    »Sag’s mir, Henning.«
    »Mirko Stapic war der Vater des Kindes von Sigrun Bosch. Und er hat sie umgebracht, weil er sie für den Tod seines Sohnes verantwortlich gemacht hat.«
    *
    Gegen 19 Uhr betrat der, der sich früher Sivo genannt hatte und jetzt als Mirko Stapic in Deutschland lebte, die Straßenbahn in Richtung Innenstadt. Ein junger Mann in Jeans und kariertem Hemd rutschte bereitwillig beiseite und bot ihm einen Platz am Fenster an. Stapic bedankte sich lächelnd, setzte sich und fragte sich gleichzeitig, was der Junge wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er ihm das Messer, das er unter seiner Jacke trug, bis zum Heft in den Hals rammen würde.
    Stapic fuhr oft mit der Bahn. Hier, zwischen all diesen Menschen, fühlte er sich sicher. Weil ihm bewusst war, dass er auf einen Außenstehenden wirkte wie einer der harmlosen, grauhaarigen Männer in den Fünfzigern, von denen Tausende in der Stadt lebten. Das Gefühl, in der Masse zu verschwinden, sich regelrecht assimilieren zu lassen, beruhigte und erregte ihn gleichzeitig.
    Der lachende Skorpion. Unsichtbar, als Löwe unter Schafen.
    Die Bahn fuhr ruckelnd an. Er wischte mit dem Handrücken über die beschlagene Fensterscheibe und sah hinaus in die Dämmerung. In einer Straßenbahn hatte er auch Sigrun Bosch kennengelernt. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen, damals, als er überall in Kroatien als Kriegsverbrecher gejagt wurde und beschlossen hatte, in Deutschland unterzutauchen.
    Sie war eine Frau mit breiten Hüften und kräftigen Brüsten gewesen, etwas unscheinbar, aber sie hatte ihm sofort gefallen. Mirko Stapic hatte ein Gespür für Menschen, es dauerte nie lange, bis er ihre Schwachstellen herausfand. Bei Sigrun Bosch war es die Einsamkeit, die Sehnsucht nach Zuwendung gewesen, und als er dies erkannt hatte, machte er es sich sofort zunutze. Es fiel ihm nicht schwer, den aufmerksamen Kavalier zu spielen, und so hatte er sie schnell da gehabt, wo er sie wollte: im Bett.
    Genauso schnell war er ihrer wieder überdrüssig geworden. Ein Vierteljahr lang ging er einmal in der Woche zu ihr, bis seine Besuche seltener wurden und schließlich ganz aufhörten.
    Dann hatte er sie wieder vergessen. Bis zu dem Zeitpunkt, als er in der Zeitung von einem Unfall erfuhr, bei dem der vierzehnjährige Sohn einer Deutschlehrerin namens Sigrun

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