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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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definieren konnte. Er öffnete die Augen. Die Scheibenwischer hatten sich eingeschaltet und hasteten auf höchster Stufe über die staubige Windschutzscheibe. Sie war gesplittert, ein feines Netz aus gezackten Rissen zog sich über das Glas.
    Er schaltete die Scheibenwischer aus.
    And now the end is near …
    Das Radio lief noch.
    …
and so I face the final curtain.
    Mahler drehte den Abschaltknopf. Jetzt hörte er das hohe Wimmern vom Rücksitz. Er sah sich um. Leutnant Sauer saß aufgerichtet da, knetete die Hände zwischen den Knien und jammerte leise vor sich hin. Er stand unter Schock. Seine Lippen bebten, aus den Mundwinkeln floss Speichel. Die Sonnenbrille war verrutscht und hing schief auf seiner Nase, ein Glas war gebrochen und herausgefallen. Der Leutnant schien es nicht zu bemerken.
    Der Kroate versuchte, seine Tür zu öffnen. Sie klemmte. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, doch sie gab nicht nach.
    Sauer stieß einen klagenden Schrei aus.
    »Sei still, Leutnant«, sagte Sivo leise.
    »Herrgott, was sollen wir jetzt machen?«
    »Ich sagte, du sollst dein Maul halten.«
    Mahlers Tür ließ sich problemlos öffnen. Er stieg aus, schwankte kurz, dann lehnte er sich gegen die Kühlerhaube und übergab sich. Der Kroate rutschte auf die Fahrerseite hinüber und verließ den Jeep ebenfalls. Er öffnete die verbeulte Hintertür.
    »Steig aus, Leutnant.«
    Sauer reagierte nicht. Sivo griff seinen Ellenbogen und zog ihn mit einem Ruck aus dem Wagen. Sauers Knie gaben nach, er streckte die Hand aus, um irgendwo Halt zu finden. Griff ins Leere und sackte auf dem Waldboden zusammen. Dort saß er und stierte vor sich hin. Sein Helm war verrutscht und hing schief auf dem Kopf.
    Sivo blickte auf den Weg, der zwanzig Meter über ihnen schräg abwärts führte.
    »Ich werde hochgehen und schauen, was passiert ist.«
    Mahler machte Anstalten, sich zu erheben.
    »Du bleibst hier, Jungchen. Und lass diese Memme nicht aus den Augen.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und stapfte mit kurzen, schnellen Schritten den Berg hinauf. Dann war er zwischen den Kiefern verschwunden.
    »Das ist deine Schuld, du versoffenes Schwein.« Der Leutnant wies mit zitterndem Finger auf Mahler. »Ich will im Herbst Jura studieren, ich … wenn ihr …«, einen Moment versagte ihm die Stimme. Er schluckte und setzte erneut an: »Wenn dieser Frau was passiert ist, bin ich dran. Dann kann ich das Studium vergessen. Wieso habe ich dich bloß fahren lassen, du bescheuertes Arschloch?«
    Die letzten Worte schrie er regelrecht heraus. Mahler hielt sich die Ohren zu, er hatte gehört, was der andere gesagt hatte, doch er verstand nichts von alledem. Das Ganze musste ein düsterer, absurder Traum sein, anders war nicht zu erklären, wie er plötzlich hierhergekommen war und nun mit schwirrendem Kopf am Kühler eines zerbeulten Armeejeeps hockte, den säuerlichen Geschmack des eigenen Erbrochenen im Mund.
    Die Sonne schien schräg durch die Kiefern. Der abgewürgte Motor des Jeeps knackte leise, von unten drang das Plätschern des Baches herauf.
    Mahler wusste nicht, wie lange er dagehockt und auf seine Hände gestarrt hatte. Plötzlich waren von oben schwere Schritte zu hören, kleine Steine rieselten den Abhang hinab.
    Der Kroate kehrte zurück. Er trug ein großes, schwarzes Bündel über der Schulter. Das Gewicht schien ihm nichts auszumachen, er kam mit leichten Schritten herbei und warf seine Last wie einen Kartoffelsack auf den Boden.
    Sauer sprang auf, wich drei Schritte zurück und stieß einen hohen, spitzen Schrei aus.
    Die Frau war jung, fast noch ein Kind. Ihre Augen waren weit geöffnet, sie wurden bereits trübe, und doch sah es aus, als wäre sie noch immer überrascht von dem, was soeben geschehen war. Ein dünnes, rotes Rinnsal lief aus ihrer Nase. Das unförmige Kleid war ihr über die Knie gerutscht. Mahler sah, dass sie trotz der Hitze altmodische, dicke Strümpfe und klobige Männerschuhe trug. Eine große, rote Ameise krabbelte ihr linkes Bein hinauf, verharrte am Knie und verschwand dann unter ihrem Rock.
    Sivo holte einen großen, gelben Apfel aus der Hosentasche und biss hinein. »Sie hat sich das Genick gebrochen«, sagte er kauend.
    Das war der Moment, in dem Leutnant Sauer endgültig die Fassung verlor. Er sprang herbei, fasste die Tote bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Sie lebt! Sie lebt, ich weiß es!«, schrie er. »Wir müssen sie beatmen, irgendwas tun, sie kann nicht tot sein! Sie

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