Zorn - Tod und Regen
Wichtigeres zu tun.«
Was rede ich eigentlich für eine Scheiße?, dachte er im nächsten Moment. Aber einmal in Rage, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Zorn, der selbst über eins achtzig war, musste aufblicken, um Kusch ins Gesicht sehen zu können. »Wie bescheuert muss man eigentlich sein, um einem Kollegen dermaßen einen reinzuwürgen? Macht dir das Spaß?« Er piekste Kusch mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor die Brust. »Ich bin schon vielen Volltrotteln begegnet, und eigentlich glaubt man ja irgendwann, dass man nichts Neues mehr erlebt. Aber du bist das bekloppteste Ar …« Zorn dachte kurz an die Anzeige wegen Beamtenbeleidigung und schwieg.
»Ich höre?«, fragte Kusch und zückte ein braunes Notizbuch. »Du gestattest, dass ich mitschreibe, damit ich’s ja nicht vergesse.«
»… schloch!« Zorn konnte nicht anders.
»Ist notiert«, erwiderte Kusch. »Sonst noch was?«
Zorn murmelte einen Fluch.
»Das hab ich leider nicht verstanden.«
Kusch klappte das Notizbuch zu, sah zum Himmel, der sich bedrohlich zugezogen hatte, und sagte langsam, jedes Wort betonend: »Es gibt Regeln, Herr Hauptkommissar. Und die gelten für jeden. Egal, ob er Würstchenverkäufer, kleiner Streifenbulle oder ein arroganter Kripoheini ist, der nichts anderes zu tun hat, als den ganzen Tag in seinen Bürostuhl zu furzen und seine Kollegen zu beleidigen.«
Zorn schnappte nach Luft und wollte eine weitere, wütende Tirade von sich geben. In diesem Moment setzte ein gewaltiger Platzregen ein. Innerhalb weniger Sekunden war er bis auf die Haut durchnässt, warf Kusch einen letzten, vernichtenden Blick zu und rannte fluchend davon.
Er brauchte eine Zigarette. Dringend.
*
»Es ist so langweilig hier.«
»Aber ich besuch dich doch jeden Tag.«
Mahler strich Ella über das dunkle Haar. In dem riesigen Krankenbett sah sie viel kleiner aus, als sie in Wirklichkeit war. Sie trug einen Kopfverband, der linke Arm wurde von einer gelben Gipsmanschette stabilisiert. Die Beine waren unter einer strahlend weißen Decke verborgen. Unter dem rechten Auge hatte sie einen Bluterguss, der sich bis unter das Kinn hinzog und in dem blassen, fast durchsichtigen Gesicht leuchtete wie ein fremdartiges, dunkelrotes Pilzgeflecht.
Sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Als das Auto sie erfasste, wurde sie fast ein Dutzend Meter durch die Luft geschleudert. Dann prallte sie gegen einen Hydranten, der ihr das Rückgrat und Teile des Hüftgelenks zertrümmerte. Das Fahrrad landete wenige Zentimeter neben ihrem Kopf auf dem Fußweg. Ihr linker Arm war mehrfach gebrochen, es gab kaum eine Stelle an ihrem Körper, die keine Prellung, Blutung oder eine ähnliche Verletzung aufwies, und doch hatte sie, wie die Ärzte sagten, Glück gehabt. Wäre sie mit dem Kopf aufgeprallt, wäre sie sofort tot gewesen.
Mahler hatte sich einen der verchromten Stühle genommen und saß direkt am Kopfende des Bettes. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte er, griff in die Tasche seines Regenmantels, holte einen hellblauen iPod hervor und legte ihn neben das Kopfkissen. »Den soll ich dir von Tom geben. Ich hab keine Ahnung, was für Musik drauf ist, aber ich kenne mich mit den Dingern eh nicht aus.«
»Tom ist doof«, sagte sie leise.
Mahler schluckte.
»Ist er nicht, Ella. Er ist dein Bruder.«
»Warum besucht er mich dann nicht?«
»Wir waren gestern hier, aber du hast geschlafen und die Schwester sagte, wir sollten dich nicht aufwecken.«
»Die ist auch doof.«
»Warum?«
»Weil sie mich nicht geweckt hat. Und außerdem darf ich nie fernsehen. Und wenn, dann irgendwelchen Babykram.«
»Ich rede mit ihr, versprochen. Schließlich bist du kein Baby. Du bist zehn.«
»Fast elf.«
Sie schniefte leise und kratzte sich mit der gesunden Hand die verschorfte Wange. Ein unangenehmes, lautes Geräusch.
»Tut’s weh?« Mahler strich ihr über den Arm.
Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Es juckt.«
»Du bist sehr tapfer, weißt du das?«
Ella sah aus dem Fenster. »Ich will nach Hause. Zu Mama. Und zu Tom.«
»Es dauert nicht mehr lange. Du weißt, dass Mama dich nicht besuchen kann. Sie ist krank, aber sie wartet zu Hause, und ich soll dir das von ihr geben.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Du stachelst«, sagte sie und drehte den Kopf zur Seite.
»Ich rasier mich nachher.« Mahler stand auf und versuchte zu lächeln. »Bevor ich’s vergesse: Was machen wir eigentlich an eurem Geburtstag?«
Sie dachte kurz nach. »Ich
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