Zorn - Tod und Regen
er schwieg.
Sauer lag in seinem Sessel wie ein zufriedenes, vollgefressenes Reptil. »Ich hab jetzt nicht genau im Kopf, was dir blüht, wenn die Sache zur Anzeige gebracht wird«, er nickte mit dem Kopf in Richtung Schublade, »aber eins muss dir klar sein: Wenn ich Druck mache, bist du deinen Schreibtisch in jedem Fall los.«
Vielleicht würde ich das ja gar nicht so schlecht finden?, dachte Zorn.
»Sieh es mal so«, fuhr Sauer mit einem breiten Lächeln fort, »ich habe Einfluss, du nicht. Wenn ich den Finger hebe, darfst du weitermachen. Wenn nicht«, Sauer senkte den Daumen, »kannst du einpacken.«
Das macht dir tatsächlich Spaß, du sadistischer Sack, dachte Zorn und erhob sich, um das Büro zu verlassen. Der Staatsanwalt stand ebenfalls auf, ging zur Tür und öffnete. Als Zorn vorbeiging, nahm ihn Sauer am Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich hab dich an den Eiern, Zorn. Vergiss das nicht.«
Zorn traute seinen Ohren nicht, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er kann mich nicht leiden, dachte er. Aber warum?
Im Vorzimmer saß Frau Saborowski und hackte emsig auf ihre Tastatur. Sie trug eine gepunktete Bluse mit einem sehr, sehr tiefen Ausschnitt. Als Zorn erschien, lächelte sie, führte die Hand ans Ohr und formte lautlos die Worte: »Ruf mich an!«
Zorn nickte und verließ den Raum. Dann hastete er zum Fahrstuhl und fuhr ins Erdgeschoss.
*
Henning Mahler saß bei seiner schlafenden Tochter. In der einen Hand hielt er ein paar Kopfhörer, die andere lag auf ihrem Unterarm und streichelte sie vorsichtig.
Er beugte sich dicht über sie, so dicht, dass sein Mund fast ihr Ohr berührte. »Ich kann es dir nicht sagen«, flüsterte er leise, ganz leise. »Es zerreißt mich, und ich weiß nicht, ob ich es je übers Herz bringen werde. Ich kann dir nicht sagen, dass Mama tot ist. Verstehst du das?«
Es roch nach Desinfektionsmitteln und frischer Wäsche. Sie stöhnte leise, drehte sich von ihm weg und murmelte im Schlaf: »Du stinkst, Papa. Und du stachelst. Du hast dich immer noch nicht rasiert.«
Mahler löste sich vorsichtig von ihr. Als er aufstand, gaben seine Kniegelenke ein leises Knacken von sich. »Was soll ich nur tun?«, murmelte er. »Was?«
Er ging zur Tür. Sah sich noch einmal um. Im Schlaf murmelte Ella den Namen ihres Bruders.
*
Das Dienstzimmer des Polizeipsychologen lag direkt neben dem Direktionsbüro für Pressearbeit. Doktor Keitel saß hinter seinem Schreibtisch, las im
Spiegel
und war gerade dabei, sorgfältig einen Apfel zu schälen, als Zorn ohne anzuklopfen ins Zimmer stürmte. Keitel war Mitte dreißig und trug wie Zorn eine Jeans, um den langen, dünnen Hals hing ein dezent gestreifter Schlips, das helle Hemd schien ein paar Nummern zu groß und schlotterte ein wenig um seinen mageren Oberkörper.
»Ich darf doch?«, sagte Zorn, nahm sich einen Stuhl, stellte ihn mit einem Knall vor Keitels Schreibtisch, warf sich hinein, streckte die Beine aus und sah den Psychologen erwartungsvoll an. »Wir können, Herr Doktor.«
Keitel legte den Apfel behutsam beiseite und schob eine dicke, schwarze Hornbrille auf der Nase zurecht. »Hatten wir einen Termin, Herr …«
»Zorn. Hauptkommissar Claudius Zorn«, sagte Zorn, noch etwas außer Atem.
»Wir sind uns schon ein paar Mal begegnet, nicht wahr?« Keitel hatte eine tiefe, sonore Stimme, die so gar nicht zu seiner schmalen, vogelartigen Erscheinung passen wollte.
»Möglich«, erwiderte Zorn und räusperte sich. »Wir sollten eines klarstellen: Ich halte nichts von diesem ganzen psychologischen Krimskrams, bin kerngesund und nur daran interessiert, diesen Käse so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ich bin nicht freiwillig, sondern auf Anweisung von Staatsanwalt Sauer hier.«
Der Psychologe schien einen Moment zu überlegen. »Ich hatte noch keine Zeit, mich mit dem Fall zu beschäftigen«, sagte er dann und wühlte umständlich in einem Aktenberg. »Ehrlich gesagt, habe ich nicht so früh mit Ihrem Besuch gerechnet, Herr Zorn.«
»Der
Fall
, wie Sie ihn nennen, ist einfach. Ich habe mich einer Verkehrskontrolle durch Flucht entzogen.«
»Warum?«
»Es war ein Kurzschluss, ich war genervt.«
»Haben Sie sich provoziert gefühlt?«
»Nein. Aber ich habe dem Beamten sehr deutlich zu verstehen gegeben, was er mich kann.«
»In welcher Form?«
Zorn hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust. »Das gilt jetzt nicht für Sie, ja?« Er ließ den Mittelfinger nach oben schnellen.
Keitel musterte Zorn über den
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