Zorn - Tod und Regen
beobachtete Schröder, der die Einsatzkräfte koordinierte.
Die rotweißen Absperrbänder flatterten wild in der klammen Brise. Hunderte Menschen drängten sich davor. Die meisten wussten nicht, was eigentlich geschehen war, folgten aber dem Drang der Menge, standen da, tuschelten und harrten der Dinge, die da kommen würden.
Es ist wie früher, dachte Zorn: Wenn du eine Menschenschlange siehst, stell dich an, irgendwas wird es schon geben.
Hoch oben am Turm der Kirche begann das Glockenspiel, eine dünne Melodie, die weit über den Markt hallte. Er sah hinauf zur Uhr. Punkt zehn.
Ein uniformierter Beamter erschien und reichte ihm eine durchsichtige Plastiktüte mit einer zerbeulten Brille aus Edelstahl. »Hauptkommissar Schröder sagt, ich soll Ihnen das bringen.«
»Wo habt ihr die gefunden?«
Der Beamte wies auf einen mobilen Käsestand, der zehn Meter weiter rechts aufgebaut war. »Da drunter. Unter der Hinterachse.«
Zorn sah sich die Brille an. Das linke Glas war zerbrochen, trotzdem erkannte er sie sofort. Eindeutig Sauers Brille. »Sagen Sie Schröder, dass ich ihn sprechen will.«
Der Beamte entfernte sich, kurz darauf trat Schröder aus dem Zelt. Er sah müde aus, seine sonst so rosigen Wangen waren von einer ungewohnten Blässe.
Zorn schlug den Mantelkragen hoch. »Sicher, dass es Sauer ist?«
»Wenn jemand aus siebzig Metern kopfüber auf eine Betonfläche knallt, kann man nie sicher sein, Chef. Aber alles deutet darauf hin. Er hatte seinen Ausweis dabei.«
»Todesursache?«
»Jedenfalls kein Selbstmord. Er war gefesselt.«
»Was sagt der Gerichtsmediziner?«
»Der glaubt ebenfalls nicht an Suizid. Seiner Meinung nach war Sauer entweder ohnmächtig oder tot, als er runtergestürzt ist. Ansonsten wäre er mit den Füßen zuerst aufgekommen.«
Zorn schüttelte den Kopf. »Versteh ich nicht.«
»Jeder Mensch ist instinktiv bemüht, seinen Kopf zu schützen, ein natürlicher Reflex. Sauer ist mit dem Schädel aufgeschlagen.«
Zorn zog die Schultern ein und schüttelte sich kurz. Keine zehn Pferde hätten ihn dazu gebracht, hinter die Abschirmung zu treten und die Leiche in Augenschein zu nehmen. Das musste er auch nicht. Wozu hatte er schließlich Schröder?
An der Absperrung entstand Tumult. Ein Würstchenverkäufer forderte lautstark, zu seinem Verkaufsstand durchgelassen zu werden. Während er lamentierte, dass ihm niemand den verlorenen Umsatz ersetze, fragte Zorn: »Was ist mit dem Melonenhändler, hat der irgendwas gesehen?«
»Der liegt im Klinikum. Er hat einen Schock und wird in den nächsten Stunden nicht vernehmungsfähig sein. Ich glaube aber nicht, dass er brauchbare Angaben machen kann.«
Das konnte auch Zorn sich nicht vorstellen. Ein Leichenwagen bahnte sich langsam den Weg durch die Gaffer, widerwillig machte die Menge Platz.
Das also wird deine letzte Fahrt, Staatsanwalt Sauer, überlegte Zorn und trat einen Schritt beiseite. Wahrscheinlich hättest du diesen Rummel sogar genossen. Tja, mein Lieber, es würde mich nicht wundern, wenn du heute Abend in den Lokalnachrichten oder vielleicht sogar in der
Tagesschau
erwähnt würdest. Das hätte dir bestimmt gefallen, oder?
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was bin ich nur für ein Arschloch, dachte er. Ich habe ihn wirklich nie gemocht, das kann man beileibe nicht behaupten. Aber ein solches Ende hat niemand verdient. Sauer ist tot. Ich lebe. Er ist auf eine beschissene Art und Weise gestorben. Wer weiß, wie ich irgendwann abtrete?
Zorn legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Fast sah es aus, als würden die Türme der Kirche die tief dahinjagenden Wolken teilen. Für einen schwindligen Moment hatte er das Gefühl, als drehe sich die Welt, als sei er jetzt oben und schaue nach unten. Als seien die Türme Paddel, die nicht den Himmel, sondern fließendes Wasser pflügten.
Tut mir leid, entschuldigte sich Zorn im Stillen bei Sauer. Ich konnte dich nicht ausstehen, das stimmt. Aber egal, wo du jetzt bist, ob da oben oder sonst wo, es waren gehässige Gedanken. Liegt am Hochmut des Überlebenden, nehme ich an.
Aber recht hatte ich trotzdem.
»Wie machen wir weiter, Chef?«
»Was?« Es dauerte einen Moment, bis Zorn in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er räusperte sich und dachte kurz nach. »Wir kümmern uns, dass hier alles ordentlich abläuft. Beweisaufnahme, Zeugenbefragung, das volle Programm.«
Schröders Handy klingelte. Er entschuldigte sich kurz, nahm ab und hörte eine Weile schweigend zu.
Weitere Kostenlose Bücher