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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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seiner Jacke und warf Schröder einen unauffälligen Blick zu. Er dachte an das verlorene Duell im Schwimmbad.
    Der Kerl ist einen Kopf kleiner als ich, doppelt so dick und ungefähr in meinem Alter, überlegte er wütend. Warum macht ihm das überhaupt nichts aus? Er könnte doch wenigstens so tun, als ob er außer Atem wäre.
    »Hier.« Schröder wies auf einen Fleck am Boden, den die Spurensicherung mit Kreide markiert hatte. »Sauers Blut. Weiter unten sind ebenfalls Blutflecken. Ich denke, er hat noch gelebt, als er hier hochkam. Wahrscheinlich wurde er gezwungen, mit vorgehaltener Waffe womöglich.«
    Zorn nickte.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einen fünfundsiebzig Kilo schweren Menschen hier raufschleppt, du etwa?«
    »Möglich wär’s«, erwiderte Schröder. »Wenn er betäubt ist. Aber Sauer wurde nicht getragen, der ist hier hochgelaufen. Wir haben seine Fußspuren.«
    Zorn wurde hellhörig. »Dann müssten wir auch Spuren vom Täter finden.«
    »Haben wir auch«, nickte Schröder. »Nagelneue Arbeitsschuhe, Größe vierundvierzig. Es würde mich nicht wundern, wenn sie extra zu diesem Zweck angeschafft und dann irgendwo im Fluss versenkt wurden.« Er stand auf, klopfte sich umständlich den Staub von der Hose und ging weiter.
    Diesmal versuchte Zorn mitzuhalten und war froh, als Schröder nach wenigen Metern erneut stehen blieb.
    »Guck mal, Chef.« Er deutete auf eine reich verzierte, steinerne Verankerung, die über ihnen ein paar Zentimeter weit aus der Wand ragte. »Die haben früher das komplette Treppenhaus gehalten. Bestimmt vierhundert Jahre alt.«
    Zorn steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich an die Wand. »Und?«
    Schröder sah nachdenklich nach oben. »Spätromanik, würde ich sagen.«
    Zorn räusperte sich, kniff die Augen zusammen und blickte ebenfalls auf.
    »Aha«, meinte er nach einer Weile.
    »Oder Gotik«, fuhr Schröder fort und kratzte sich am Kinn. »Ich bin nicht ganz sicher.«
    Ein frischer Luftzug wehte von oben herab.
    Zorn schob die Unterlippe vor und wippte ein wenig auf den Zehenspitzen.
    »Interessiert mich einen Dreck.«
    Dann ging er weiter.
    Schröder blieb noch einen Moment mit verschränkten Armen unter dem Vorsprung stehen. »Ich denke, es ist Gotik«, meinte er nach einer Weile. Dann folgte er seinem Chef nach oben.
    *
    Doktor Keitel stand am Fenster und goss seinen Drachenbaum, eine kümmerliche Topfpflanze, die ihm seine Frau vor drei Jahren zum fünften Hochzeitstag geschenkt hatte. Er machte sich nichts aus Blumen, aber er liebte seine Frau aus tiefstem Herzen. »Du musst sie gut pflegen«, hatte sie gesagt und ihm einen Kuss auf die Nase gegeben. »Sie wird dich an mich erinnern, wenn du im Büro bist. Ich will, dass du immer an mich denkst.« Daran hatte er sich gehalten. Denn er liebte seine Frau nicht nur, er hörte auch auf sie.
    Das Heft mit den Aufzeichnungen von Sigrun Bosch hatte er zur Hälfte durchgelesen. Nach wenigen Seiten war ihm klargeworden, dass ihre Briefe an den verunglückten Sohn vor allem dazu gedient hatten, Trauer und Schuldgefühle zu verarbeiten.
    Ihm war klar, was Zorn von ihm erwartete: Dass er etwas finden sollte, etwas, das ihnen weiterhelfen oder womöglich den Tod der Frau erklären könnte. Bisher war ihm außer den typischen Anzeichen einer Depression nichts aufgefallen. Eine solche psychische Störung war nach dem Verlust eines Kindes nicht ungewöhnlich, sondern absehbar.
    Keitel seufzte und zupfte ein vertrocknetes Blatt vom Stiel des Drachenbaums. Betrachtete es stirnrunzelnd, warf es in den Papierkorb, ging zurück zum Schreibtisch, schob die Brille zurecht und las weiter. Seite um Seite hatte sie sich ihre Wut, die Angst und die Hilflosigkeit in einer strengen, steilen Schrift von der Seele geschrieben, Gefühle, die er tagtäglich analysierte, die im Moment aber uninteressant waren. Gähnend schlug Keitel die nächste Seite auf. Überflog die folgenden Zeilen, blätterte wieder um, stutzte und blätterte zurück.
    Ich habe Dir nie gesagt, wer Dein Vater ist. Das hatte seine Gründe, mein Sohn. Glaube mir, Du hättest es irgendwann erfahren. Dann nämlich, wenn Du stark genug gewesen wärst, ihm gegenüberzutreten.
    Das ist wirklich interessant, überlegte Keitel, schob das Kinn vor und kratzte sich nachdenklich den dünnen Hals. Äußerst interessant.
    *
    »Zweihundertsiebenundvierzig!«, sagte Schröder und lehnte sich an die Brüstung.
    »Was?«
    »Stufen, Chef.«
    »Gut, dass ich das jetzt

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