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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Besuchern hinterlassen hatten, waren stellenweise verblasst und kaum noch zu entziffern. Um die Fensteröffnung lief ein schmales, gemustertes Band aus verziertem Sandstein, ebenfalls mit eingeritzten Zeichen übersät. Zorn entdeckte etwas, das er für Kyrillisch hielt, möglicherweise das Werk eines russischen Soldaten, der hier im Zweiten Weltkrieg Wache gestanden haben musste. Er wollte sich aufrichten, stützte sich dabei mit der Hand ab und blieb dann gebückt, das Gesicht nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt, stehen.
    Direkt unter dem Fensterbrett war etwas in den Kalk geritzt.
    Es sah frisch aus. Deutlich. Insgesamt nicht größer als eine Zigarettenschachtel.
    SIVO
, entzifferte Zorn.
    Darunter ein Herz.
    Und ein weiteres Wort:
HANNAH
    Er hat sie, dachte Zorn verzweifelt. Dieses verdammte Schwein hat sie tatsächlich entführt. Zorn hätte nie für möglich gehalten, dass es so etwas wirklich gab, aber sein Herz hörte tatsächlich einen Moment auf zu schlagen. Er kippte nach hinten und blieb rücklings auf dem Hintern sitzen.
    »Vorsicht, Chef. Taubenscheiße geht schwer raus.«
    »Komm her«, sagte Zorn leise, den Blick stur auf die Wand gerichtet.
    »Du solltest lieber aufstehen, die –«
    »Du sollst herkommen, verdammt!«
    Schröder, der wusste, wann es ernst wurde, hockte sich neben seinen Vorgesetzten auf den Boden. Der starrte stumm auf die Wand.
    »Das gibt’s nicht«, flüsterte Schröder nach einer Weile.
    »Warum hat das niemand bemerkt?«
    »Chef, die Kollegen von der Spurensicherung –«
    Zorn sprang auf. »Die Spurensicherung heißt Spurensicherung, weil sie Spuren sichern soll! Und das da auf der Wand ist eindeutig eine Spur, die nicht gesichert wurde! Scheiße, die wurde ja nicht mal gefunden!«
    Schröder erhob sich ebenfalls. »Seit Samstag früh waren acht Leute im Einsatz, sie haben ununterbrochen gearbeitet.«
    »Die sollen noch mal anrücken und jeden Quadratzentimeter absuchen, und zwar den ganzen verdammten Turm! Mist, was sind das nur für Pfeifen!«
    Schröder steckte die Hände in die Taschen. »Du weißt, dass das unfair ist.«
    Das wusste Zorn natürlich. Aber es war ihm egal. Er brauchte etwas, um seine Wut abzulassen. Und seine Angst. Es ging nicht um die Spurensicherung. Es ging um Hannah. In dem Moment, als er die Inschrift gelesen hatte, war ihm klargeworden, dass es zu spät war. Dass sie wahrscheinlich nicht mehr lebte.
    Er lehnte sich an die Wand und schloss die Augen.
    »Chef?«
    »Du hast recht, es ist unfair. Sie sollen trotzdem noch mal kommen.«
    »Hier steht noch was.«
    Er ging zu Schröder, der wieder in die Hocke gegangen war und auf zwei Buchstaben deutete, die schräg unter dem Bild in die Wand geritzt waren. Wie die Initialen eines Künstlers, der sein Bild signiert hat:
H.M.
    »Ich bin nicht ganz sicher, ob es dazugehört«, sagte Schröder nachdenklich.
    »Aber ich.«
    Zorn stand auf, griff eine Zigarette, steckte sie in den Mund, zögerte und nahm sie wieder heraus. Sah sie kurz an, schüttelte den Kopf und legte sie zurück in die Packung. Dann trat er an die Brüstung und sah nach Westen. Die Wolken kamen näher.

Siebzehn
    Es war kurz vor sieben Uhr abends, als Zorn auf der überfüllten Schnellstraße in Richtung Norden fuhr. Normalerweise war der Berufsverkehr um diese Zeit längst abgeklungen, doch jetzt waren viele Straßen wegen Überschwemmung gesperrt, ein Großteil des Verkehrs wurde hierher umgeleitet. So ging es nur stockend voran. Das Radio dudelte einen angestaubten Popsong aus den frühen Achtzigern.
    Ein paar Mal hatte er vergeblich versucht, Henning Mahler auf dem Handy zu erreichen. Schließlich hatte er keine andere Möglichkeit gesehen, als ins Auto zu steigen und direkt in die Gartenstadt zu fahren. Schröder war auf dem Kirchturm geblieben, um die Spurensicherung einzuweisen.
    Was Henning Mahler betraf, hatte Schröder Zweifel angemeldet. Wahrscheinlich gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen in der Stadt, deren Initialen
HM
waren, und sicherlich hatte er damit recht. Aber an diesem Montag war Claudius Zorn bereit, jedem noch so kleinen Hinweis nachzugehen, der auf der Suche nach Hannah Saborowski helfen konnte.
    Im Radio lief jetzt ein Beitrag über den Mord an Staatsanwalt Sauer. Zorn drehte lauter und hörte ein Interview mit der Bürgermeisterin, die in gestelztem Kauderwelsch den »selbstlosen Einsatz der technischen Hilfskräfte« lobte und versicherte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis man den Mörder

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