Zorn - Tod und Regen
weiß«, erwiderte Zorn, dem beim Gedanken an den Abstieg etwas mulmig wurde.
Den Abschluss des Turms bildete ein achteckiges Zimmer, überdacht von einer kupfernen, mit Grünspan überzogenen Kuppel. Auf allen Seiten waren große, unverglaste Fenster eingelassen, die einen atemberaubenden Blick über die Stadt boten.
Der Raum maß höchstens fünf Meter im Durchmesser. Den Boden bildeten rohe, unbehandelte Eichendielen, wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten verlegt. Die mit Kalk verputzten Wände waren mit krakeligen Inschriften, Zeichnungen und Initialen übersät. Hier oben wehte ein ziemlich starker Wind, sie mussten fast rufen, um sich verständlich zu machen.
»Hier hat er gehangen.«
Schröder wies auf eines der Fenster, das direkt auf den Markt zeigte. Es war wie die anderen unvergittert. Einzig eine schmiedeeiserne Stange, die links und rechts in der Wand verankert und in Brusthöhe quer vor der Öffnung befestigt war, bot so etwas wie Schutz vor dem Sturz in den sicheren Tod.
Zorn beugte sich über die Brüstung und sah hinab. Es ging mindestens fünfzig Meter senkrecht in die Tiefe. Ein heftiger Windstoß fuhr ihm durchs Haar, ihn schwindelte, eilig wich er zurück, trat zwei Schritte nach hinten und atmete tief durch. Es war etwas anderes, in seiner Wohnung zu stehen und hinter der sicheren Fensterscheibe nach unten zu schauen, als hier, wo man direkt mit dem freien Fall konfrontiert wurde.
Er zeigte auf die Querstange vor dem Fenster. »Hier war das Seil befestigt, oder?«
Schröder nickte.
»Gewöhnlicher Hanfstrick aus dem Baumarkt.«
»Gibt es da eine Verbindung zu Sigrun Bosch?«
»Nein, Chef. Sie war nicht mit Stricken, sondern mit Kabelbindern gefesselt.«
»Wäre auch zu schön gewesen.«
»Allerdings.«
»Okay, lass uns überlegen. Sauer wird mit vorgehaltener Waffe gezwungen, hier hochzusteigen. Und bevor er an den Füßen aus dem Fenster gehängt wird, schneidet man ihm die Kehle durch.«
»Und zwar genau hier.« Schröder deutete in die Mitte des Raumes, auf einen weiteren Blutfleck, wesentlich größer als der, den sie im Treppenhaus gefunden hatten. »Mit einer Schlinge aus Diamantsägedraht.«
Zorn hob fragend die Augenbrauen.
»So ähnlich wie ein Laubsägeblatt«, erklärte Schröder. »Ein dünner, gezackter Draht, der mit winzigen Industriediamanten beschichtet ist. Spuren davon wurden in Sauers Halswunde gefunden. Normalerweise sägt man damit Stein oder Metall. Aber bei einem Menschen …«, Schröder fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Ein kurzer Ruck und der halbe Kopf ist ab.«
»So genau wollte ich’s gar nicht wissen.« Zorn ging in die Hocke und besah sich den eingetrockneten Blutfleck. Eine große, schwarze Fliege kroch träge darüber hinweg, er verscheuchte sie mit der Hand und sagte: »Der Staatsanwalt ist also auch verblutet.«
»Wie man’s nimmt.«
»Bei Sigrun Bosch wurden keine Diamantspuren gefunden, oder?«
»Nein, Chef.«
»Auch das wäre zu schön gewesen.«
Als Zorn aufstand, gab sein linkes Knie ein deutlich vernehmbares Knacken von sich. Er ging zum gegenüberliegenden Fenster und sah nach Westen. Langsam zog die Dämmerung herauf. Der Fluss war weiter gestiegen, vom Unteren Knoten bis zur Pferderennbahn erstreckte sich jetzt ein riesiger See, in dem sich das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Die überschwemmten Straßen in der tiefer gelegenen westlichen Altstadt hatten sich in Seitenarme des Flusses verwandelt. Links ragten die riesigen Scheinwerfertürme des Stadions in den Himmel. Vor zwei Stunden hatte es aufgehört zu regnen, doch am Horizont zogen bereits neue, schwarze Wolken heran.
»Wenn das so weiter regnet, steht irgendwann die gesamte Stadt unter Wasser.« Schröder war leise hinter ihn getreten und sah nachdenklich hinab.
»Wenn du wüsstest, wie egal mir das ist«, murmelte Zorn.
»Was?«
»Nichts.« Zorn wandte sich um und kramte in seiner Tasche nach den Zigaretten. Als er die Schachtel hervorholte, fiel das Feuerzeug zu Boden und rollte an die Wand. Er knurrte eine Verwünschung und bückte sich, um es aufzuheben.
Später würde er sich fragen, ob das, was dann geschah, Zufall, Schicksal oder einfach nur Glück war. Manche hätten es auch als Fingerzeig Gottes gewertet, eine Formulierung, die Zorn allerdings niemals verwendet hätte, selbst auf der Turmspitze einer Kirche nicht.
Als er am Boden unter dem Fenster hockte, fiel sein Blick auf die gekalkte Wand. Die Inschriften, die Generationen von
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