Zorn - Tod und Regen
Auch das werden Sie später herausfinden. Dass man ständig müde ist.«
»Ich danke Ihnen für die Hilfe.«
Der Alte winkte ab und ging langsam davon.
»Wo haben Sie die Krähen eigentlich gesehen?«, rief ihm Zorn hinterher.
»Hinter dem Haus, im Garten.«
»Ich kümmere mich sofort darum.«
»Lassen Sie’s von mir aus bleiben. Wenn noch was ist, ich bin nebenan.«
Zorn sah ihm einen Moment nach, dann wandte er sich um. Rechts führte ein Weg am Haus vorbei in den hinteren Teil des Gartens. Er überlegte, ob er die Zigaretten aus dem Auto holen solle, ließ es dann aber bleiben.
Kurz darauf stand er hinter dem Haus. Die Hecke war hier deutlich höher, von der Straße aus war es unmöglich, den Garten einzusehen. Eine Laterne warf einen schmalen Streifen Licht über den abschüssigen, gepflegten Rasen. Links von ihm befand sich eine überdachte Terrasse, er erkannte mehrere Stühle, die schräg an einem Tisch lehnten.
Hier haben sie im Sommer gesessen und den Kindern beim Spielen zugesehen, dachte er und betrat den Rasen. An der Hauswand stand ein großer Grill, daneben lehnten ein Spaten, ein großer Vorschlaghammer und mehrere Harken.
Der untere Teil des Grundstücks lag im Schatten, er sah das Dach des angrenzenden Hauses und davor, in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern, die Umrisse eines knorrigen, dicht belaubten Baumes. Langsam lief er darauf zu. Als er nah genug war, erkannte er, dass der Baum vollständig kahl war.
Das war kein Laub.
Im Geäst drängten sich Hunderte große, schwarze Vögel. Krähen. Die äußeren, dünnen Zweige bogen sich unter ihrer Last. Dicht an dicht saßen sie da, reglos, manche schienen zu schlafen, andere starrten ausdruckslos auf Hauptkommissar Claudius Zorn hinab. Als würden sie auf etwas warten.
Was soll der Quatsch?, überlegte er verwirrt. Wo bin ich hier? Bei Hitchcock?
*
»Ich habe die Aufzeichnungen von Sigrun Bosch gelesen. Wir sollten schnellstens miteinander reden, Herr Kommissar.«
Zorn wusste nicht, wie lange er dagestanden und mit offenem Mund auf die Vögel gestarrt hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis er das Klingeln seines Handys registriert und verstanden hatte, was der Psychologe von ihm wollte.
»Wenn ich ehrlich sein soll, ist es im Moment sehr ungünstig, Doktor Keitel.«
Es regnete wieder, dicke Tropfen klatschten auf den Rasen. Er hatte unter dem Terrassendach Schutz gesucht und lehnte mit dem Rücken an der Hauswand.
»Es gibt da eine Stelle, die mir aufgefallen ist«, sagte Keitel. Zorn hatte kaum Empfang, immer wieder setzte die Verbindung aus. Er wischte sich das nasse Haar aus der Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. »Können wir uns morgen früh treffen?«
»Gern.«
»Gut, ich melde mich bei Ihnen«, sagte Zorn und wollte sich verabschieden, dann fiel ihm noch etwas ein. »Das ist jetzt vielleicht eine blöde Frage, aber können Sie mir sagen, was Sie über Krähen wissen?
»Krähen?«
»Ja.«
»Das ist nicht unbedingt eine blöde Frage. Eher ungewöhnlich.«
Der Baum war von hier aus nur schemenhaft zu erkennen. Die Krähen sah Zorn von hier aus nicht, doch er wusste, dass sie da waren. Es roch nach nassem, frisch gemähtem Gras. Und nach Erde.
»Ich bin kein Ornithologe«, sagte Keitel am anderen Ende. Er klang ein wenig verwundert. »Aber man sagt, dass Krähen äußerst intelligente Tiere sind. Früher galten sie als Unglücksboten, soweit ich weiß. Und sie sind …« Der Rest ging in statischem Rauschen unter.
»Herr Keitel? Ich verstehe Sie kaum«, rief Zorn und drückte das Handy ans Ohr. »Was sagten Sie?«
Nebenan wurde Licht eingeschaltet. Es stammte aus dem Haus des alten Mannes, das direkt an Mahlers Grundstück grenzte. Ein Fenster wurde angekippt, uralte Schlagermusik aus den dreißiger oder vierziger Jahren drang leise herüber. Zorn sah, wie sich der Alte mit müden Bewegungen in der Küche zu schaffen machte. Ein schmaler Lichtstreifen fiel schräg in den Garten, der Rasen glänzte im Regen.
»Aasfresser.«
»Können Sie das wiederholen?«
»Ich sagte, dass Krähen Aasfresser sind. Nicht ausschließlich, aber …«
Diesmal brach die Leitung endgültig zusammen. Das Besetztzeichen ertönte, Zorn schimpfte leise und stopfte das Handy in die Jacke. Nahm sich einen der Stühle und setzte sich an die Hauswand. Ich sollte ins Präsidium fahren, überlegte er, und sehen, was die Suche nach Hannah macht. Oder nach Hause, Malina wartet wahrscheinlich schon.
Langsam wurde ihm kalt.
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