Zorn - Tod und Regen
einem Mal kam der Gestank. Urplötzlich, wie ein unerwarteter Schlag ins Gesicht. Hüllte ihn ein, als würde ihm ein alter, vermoderter Scheuerlappen über Mund und Nase gelegt. Er würgte, fuhr zurück und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
Eine Katze, dachte er und griff nach dem Stoff. Sie haben bestimmt nur ihre Katze begraben. Das nasse Leinen riss mit einem hässlichen, unangenehmen Laut. Der Geruch wurde schlimmer. Infernalisch. Hennings Frau, grübelte Zorn, sie muss eine Katze gehabt haben, bestimmt hing das Tier sehr an ihr, und, wer weiß, man hat schon so was gehört, die Katze könnte vor Gram gestorben sein, als Clara Mahler plötzlich nicht mehr da war.
Er schloss für einen Moment die Augen. Bitte, lieber Gott, lass es eine Katze sein. Oder von mir aus auch einen Hund.
Doch es war wie so oft. Vielleicht hatte Gott keine Zeit, oder einfach nur keine Lust? Zorns Stoßgebet jedenfalls verpuffte wirkungslos im Äther.
Das war weder ein Hund noch eine Katze.
Und darum wird einmal ein Wunder geschehn.
Aber auch nicht das, was Zorn befürchtet hatte.
Und ich weiß, dass wir uns wiedersehn.
Hannah Saborowski hatte rötliches Haar. Das, was da durch den Riss schimmerte, war hellblond. Aber es gehörte eindeutig zu einem Menschen.
Aus weiter Ferne hörte Zorn, wie das Fenster zugeklappt wurde, plötzlich war es still im Garten. Totenstill. Er spürte, wie die Übelkeit wiederkam, erhob sich und stand mit weichen Knien über dem Grab. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht denken, sein Kopf war leer wie eine hohle Nuss. Einen Moment widerstand er dem Drang, einfach davonzulaufen. Dann gab er auf und wankte zu seinem Auto. Um nichts in der Welt wollte er sehen, wer dort begraben lag.
Was ist mit mir?, überlegte er, während er mit zitternden Fingern nach den Autoschlüsseln suchte. Werde ich alt? Nein, ich bin einfach nicht für diesen Job gemacht. Oder nicht cool genug? Der dicke Schröder würde das hier locker wegstecken.
Schließlich gelang es Zorn, den Volvo zu öffnen. Hastig griff er nach den Zigaretten, die erste fiel ihm aus den lehmverschmierten Händen, er benötigte drei Versuche, bis er es endlich geschafft hatte, ein Streichholz anzuzünden.
Er inhalierte tief, als wäre dies die letzte Zigarette in seinem Leben. Nach den ersten Zügen wurde er ruhiger, das Nikotin tat seine Wirkung. Es gelang ihm, seine Gedanken halbwegs zu ordnen. Dann rief er Schröder an.
»Schnapp dir ein Kommando und komm in die Waldstraße.«
»Chef, es ist halb neun, alle verfügbaren Leute sind unterwegs und –«
»Waldstraße, Schröder. Sofort.«
»Was ist passiert?« Schröder klang besorgt.
»Das erzähl ich dir, wenn du hier bist.«
»Ist alles okay mit dir?«
»Ja. Komm einfach her. Und wir brauchen den Ornithologen.«
»Wie bitte?«
»Quatsch, den … den Pathologen«, korrigierte sich Zorn und atmete tief durch. Er fühlte sich jetzt besser. Bevor Schröder etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Ich weiß, wie spät es ist. Aber glaub mir, wenn er hier in zehn Minuten nicht aufgetaucht ist, fahre ich persönlich vorbei und hole ihn aus dem Bett.«
»Ich werd’s ihm ausrichten, Chef.«
*
Als die Ampel auf Grün schaltete, setzte er den Mercedes langsam in Bewegung und fuhr in Richtung Zentrum. Den Mozart drehte er lauter, nur ein bisschen. Einige Minuten später passierte er das neue Justizzentrum, sah vorschriftsmäßig in den Rückspiegel, fädelte in den Kreisverkehr ein und nahm die Ausfahrt zum Bahnhof.
Langsam schaukelte der große, graue Koffer im Heck des Wagens hin und her.
*
»Es handelt sich um einen Jungen. Zehn, vielleicht elf Jahre alt. So genau kann ich das auf den ersten Blick nicht sagen.«
Der Gerichtsmediziner, ein untersetzter Mann mit schütterem Haar und bedächtiger Stimme, war nach einer halben Stunde erschienen. Zorn kannte ihn nicht, wahrscheinlich arbeitete er erst seit kurzem in der Pathologie.
»Wie lange hat er dort gelegen?«, fragte Zorn.
»Das kann ich Ihnen morgen sagen, nach der Obduktion.«
»Ich brauche eine ungefähre Zeit. Zwei Tage? Zwei Wochen? Zwei Monate?«
Der Gerichtsmediziner überlegte. »Nach dem Grad der Verwesung würde ich eher auf zwei, drei Wochen tippen. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Ich muss einige Untersuchungen anstellen.«
Sie standen unter dem Vordach auf der Terrasse. Unten im Garten waren Scheinwerfer aufgebaut, vier Männer in weißen Schutzanzügen waren damit beschäftigt, die Spuren zu
Weitere Kostenlose Bücher