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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Privatgrundstück.«
    Er zeigte keinerlei Anzeichen von Angst oder Verunsicherung. Zorn schätzte ihn auf weit über siebzig. Trotz seines Alters hatte er eine tiefe, sonore Stimme. Wie jemand, der es gewohnt ist, vor vielen Menschen zu sprechen. Ein ehemaliger Bankdirektor vielleicht. Oder ein Theaterregisseur.
    Zorn reichte seinen Ausweis über die Hecke. Der Alte nahm seine Brille ab und hielt ihn dicht vor die kurzsichtigen Augen. Betrachtete erst den Ausweis, dann Zorn, dann wieder den Ausweis.
    »Polizei? Das wurde auch Zeit«, sagte er dann und gab das Dokument zurück.
    Zorn steckte den Ausweis in die Innentasche seiner Jacke. »Zeit? Wieso?«
    »Heute ist Montag.« Der Alte setzte die Brille wieder auf. »Am Freitag habe ich die Anzeige erstattet. Korrigieren Sie mich, aber meiner Meinung nach sind seitdem drei volle Tage vergangen. Arbeitet die Polizei heutzutage immer so schnell?«
    »Welche Anzeige?«, fragte Zorn.
    »Krähen.«
    »Bitte?«
    »Am Freitag«, erklärte der Alte und klang jetzt, als würde er mit einem Zwölfjährigen reden, »habe ich bei Ihnen angerufen und angezeigt, dass sich auf diesem Grundstück«, er deutete auf Mahlers Haus, »ungewöhnlich viele Krähen herumtreiben. Ich wohne jetzt seit fünfunddreißig Jahren hier und habe so etwas noch nie erlebt.«
    Jetzt erinnerte sich Zorn. Schröder hatte den Anruf erhalten, als sie unterwegs zur Wohnung von Sigrun Bosch gewesen waren.
    »Ich weiß«, sagte er. »Die Kollegen sind dabei, die Sache zu prüfen.«
    Der Alte lachte auf. »Sehr gut, ihr haltet mich also für einen verkalkten Spinner.«
    »Nein«, wehrte Zorn ab, »wir nehmen jeden Hinweis der Bevölkerung ernst, dazu sind wir ja da.« Was rede ich hier eigentlich für einen Mist?, dachte er und suchte in den Taschen nach seinen Zigaretten. Die lagen im Auto.
    »Ich mag ja alt sein, aber hier«, der alte Mann pochte mit dem Zeigefinger an die Schläfe, »ist noch alles intakt. Ich bin nicht senil. Noch lange nicht. Und ich gehöre nicht zu den Menschen, die aus Langeweile die Polizei belästigen.«
    »Das habe ich auch nicht behauptet.«
    »Aber ich merke sofort, wenn man mich anlügt. Also, was wollen Sie?«
    Zorn entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. Wahrscheinlich hätte er als Nächstes sowieso in der Nachbarschaft fragen lassen.
    »Ich suche Henning Mahler.«
    »Henning?« Der Alte schien ehrlich verwundert.
    »Ja«, nickte Zorn. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
    »Hat er sich etwas zuschulden kommen lassen?«
    »Beantworten Sie bitte die Frage.« Und nach kurzem Überlegen fügte Zorn hinzu: »Nein, ich glaube nicht, dass er etwas ausgefressen hat. Ich muss ihn nur dringend sprechen.«
    »Er ist ein netter Junge.«
    »Das bestreitet niemand. Die Frage ist, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben«, wiederholte Zorn.
    Der Alte dachte nach. »Letzten Donnerstag. Ich war spazieren. Als ich nach Hause kam, stand Henning am Fenster und hat mir zugewunken.«
    »Können Sie sich an die Uhrzeit erinnern?«
    »Ungefähr wie heute, es war fast dunkel. Gegen halb acht, würde ich sagen.«
    »Haben Sie eine Ahnung, wo er jetzt sein könnte?«, fragte Zorn und dachte an Malina, die in einer halben Stunde bei ihm sein wollte.
    »Natürlich, bei seiner Familie.«
    Zorn horchte auf. »Wie meinen Sie das?«
    »Henning hat erzählt, dass seine Frau mit den Zwillingen in Urlaub gefahren ist. Er hat nicht gesagt, wohin, aber ich denke, er ist hinterhergefahren und verbringt mit ihnen ein verlängertes Wochenende.«
    Dass Mahler den Selbstmord seiner Frau verschwiegen und versucht hatte, ein normales Familienleben vorzugaukeln, war verständlich, überlegte Zorn. Er selbst hatte Mahler ebenfalls zuletzt am Donnerstag gesehen, als dieser ihn vor dem Optiker angesprochen hatte. Auch das war mittlerweile vier Tage her.
    »Sind Sie sicher, dass er seit Donnerstag nicht mehr in seiner Wohnung war?«
    Der Alte sah ihn einen Moment an. »Darf man fragen, wie alt Sie sind, junger Mann?«
    »Zweiundvierzig«, antwortete Zorn verwundert und erschrak, sobald er diese astronomische Zahl laut ausgesprochen hatte. »Warum fragen Sie?«
    »In dreißig Jahren werden Sie verstehen, was ich meine. Wenn alle Welt glaubt, dass Sie nur noch dröge dahinvegetieren und nichts anderes zu tun haben, als Kreuzworträtsel zu lösen und Ihre Nachbarn zu beobachten. Glauben Sie mir, ich habe weiß Gott Besseres zu tun.«
    Darauf wusste Zorn keine Antwort.
    »Egal«, fuhr der alte Mann fort. »Ich muss jetzt schlafen.

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