Zorn - Tod und Regen
Frieda Borcks Büro nur unwesentlich größer war als sein eigenes. Das Zweite war die Unordnung. Überall lagen Akten verstreut, auf dem Schreibtisch türmte sich ein Berg juristischer Zeitschriften, dicke Fachbücher stapelten sich auf dem Boden.
Das Dritte war Frieda Borck selbst.
Sie war keine klassische Schönheit im eigentlichen Sinn. Mund, Nase und Augen schienen ein wenig zu groß für das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Als sie aufstand und den beiden entgegenkam, hatte es den Anschein, als gehöre sie eher auf den Laufsteg als in die trostlosen Flure des Polizeipräsidiums. Sie trug ein graues, hochgeschlossenes Kostüm mit einer weißen Bluse, dazu eine altmodische Kette aus dunklen Perlen, die sie dreimal um den Hals geschlungen hatte. Das dunkle, widerspenstige Haar war mit einem weißen Band zurückgebunden.
Wenn sie andere Klamotten anhätte, würde sie phantastisch aussehen, überlegte Zorn und hätte sich im selben Moment am liebsten geohrfeigt. Dieser Gedanke war ihm innerhalb einer Zehntelsekunde durch den Kopf geschossen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.
»Also meine Herren«, sagte sie und rückte zwei Stühle vor ihrem Schreibtisch zurecht. Zorn schob mit dem Fuß einen Umzugskarton beiseite und setzte sich, Schröder folgte seinem Beispiel.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, begann Frieda Borck. »Vor vierundzwanzig Stunden hatte ich noch keine Ahnung, dass ich heute hier sitzen würde. Ich habe bisher keine Zeit gehabt, mich in den Fall einzuarbeiten, Sie sehen ja selbst«, sie zeigte auf das Chaos im Zimmer, »ich bin noch nicht mal dazu gekommen, mich hier einzurichten. Mir ist klar, dass die Situation für Sie genauso ungewöhnlich ist wie für mich. Und bevor wir anfangen, möchte ich noch eines klarstellen.« Sie sah Zorn direkt in die Augen. »Dies ist mein erster offizieller Fall. Ich habe keinerlei praktische Erfahrung, aber ich werde diesen Job gut machen. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wahrscheinlich halten Sie mich für ein unerfahrenes Huhn.«
Nee, dachte Zorn. Küken.
»Was nicht weiter verwunderlich wäre«, fuhr sie fort. »Sie machen Ihren Job seit Jahren, jetzt komme ich und soll Ihnen sagen, was Sie zu tun haben. Ich kann verstehen, dass Sie damit Probleme haben. Schließlich könnten Sie mein Vater sein.«
»Haha, das glaub ich nicht«, lachte Zorn und versuchte sich in einem jugendlichen Grinsen. Zögerte und rechnete nach. Scheiße, sie hat recht, dachte er und kratzte sich am Kopf.
»Apropos«, sagte sie und spielte an ihrer Halskette, »Sie werden es sowieso bald erfahren, deswegen teile ich es Ihnen lieber gleich mit: Mein Vater ist Richter am Oberlandesgericht.«
»Ist das denn wichtig?«, fragte Schröder und sah sie erstaunt an.
»Ich denke schon. Viele werden sagen, dass ich hier bin, weil ich Beziehungen in die höchsten Etagen habe. Mein Vater hat damit nichts zu tun.«
Wer’s glaubt, wird selig, dachte Zorn, schlug die Beine übereinander und lächelte höflich.
»Ich habe diesen Job, weil ich Jahrgangsbeste bin. Nur deshalb. Und ich werde ihn nicht vermasseln. Das funktioniert nur, wenn wir zusammenarbeiten.«
Widerwillig musste Zorn sich eingestehen, dass ihre Direktheit ihn beeindruckte. Sie war unerfahren, das gab sie ohne Umschweife zu. Und sie schien ehrlich zu sein.
Frieda Borck schob ein paar Papiere zur Seite und räusperte sich. »So, das war der erste Teil. Kommen wir zum zweiten. Der ist ebenso unangenehm, aber ich muss Sie das fragen.« Wieder sah sie Zorn an. »Glauben Sie, dass Sie dieser Aufgabe gewachsen sind, Herr Hauptkommissar?«
Zorn hielt ihrem Blick stand.
»Nein.«
Sie hob die Augenbrauen.
»Sehen Sie«, sagte Zorn und schob seinen Stuhl ein wenig zurück. »Diese Stadt hat über zweihunderttausend Einwohner und ist doch nicht mehr als ein kleines, verschlafenes Provinznest.«
Frieda Borck wollte etwas sagen, doch Zorn hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Sind Sie hier geboren?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Leute hier sind träge, Frau Borck. Ich nehme mich da nicht aus. Die meisten wollen nur ihre Ruhe, und wenn man nachts durch die Straßen läuft, könnte man denken, dass die Bürgersteige nur deshalb nicht hochgeklappt werden, weil die Menschen einfach nur zu faul dazu sind.«
»Jetzt übertreiben Sie, Herr Hauptkommissar.«
»Wahrscheinlich«, nickte Zorn. Plötzlich hatte er das Gefühl, jeden Moment von
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