Zorn und Zärtlichkeit
Bettlern belästigt. In Aberdeen lebten unzählige arme Leute, die Arbeit suchten oder die Bettelei berufsmäßig betrieben.
Wenn Sheena allmorgendlich die schmucklose Unterkunft ihrer Tante verließ, ging sie zum Armenhaus, einem halbverfallenen Steingebäude, das in der Nähe des Klosters lag. Ursprünglich war es als Herberge für müde, arbeitssuchende Reisende errichtet worden, die dort eine warme Mahlzeit und ein sauberes Bett für ein oder zwei Nächte bekommen hatten. Später war es zu einem Elendsquartier für Bettler und Landstreicher herabgesunken. Der Schlafsaal enthielt nur zehn Betten, doch die Regel, dass man nach spätestens zwei Nächten ausziehen musste , galt immer noch, und so tauchten ständig neue Gesichter auf.
Sheenas Tante war keineswegs verpflichtet, jeden Tag hinzugehen. Trotzdem ließ sie sich das nicht nehmen. Ein Priester wohnte im Armenhaus, um die Mahlzeiten zu verteilen, war jedoch zu alt, um auch die übrige Arbeit zu leisten. Die Gäste wurden angehalten, ihr Bettzeug selbst zu waschen und ihr Eßgeschirr für die Neuankömmlinge zu reinigen. Aber diese Regel wurde nicht beherzigt, und nur die tägliche Fürsorge der Nonnen konnte verhindern, dass sich das Haus zu einer Pesthöhle entwickelte.
Als Sheena sah, wie erschöpft ihre Tante Erminia war, bestand sie darauf, ihr zu helfen. Die bedauernswerte Frau verbrachte jeden Vormittag im Armenhaus, um zu waschen und sauberzumachen, dann arbeitete sie ein paar Stunden lang im Hospital und später wieder im Armenhaus, bevor sie am Abend ins Kloster zurückkehrte. Ihre Nichte war erschüttert.
Immerhin näherte sich Erminia schon ihrem fünfzigsten Lebensjahr, und Sheena sah keinen Grund, warum sie ihr nicht helfen sollte. Sie war jung und kräftig, deshalb schaffte sie die Arbeit in der halben Zeit, die ihre Tante dazu brauchte. So konnten sie die Nachmittage in der Stille des Klosters verbringen, miteinander reden oder nähen. Wenn Sheena ihr Zuhause und ihr früheres Leben vermißte, so zeigte sie es vorerst nicht.
Ein Monat war seit ihrer Reise nach Aberdeen verstrichen, und sie hatte noch nichts von daheim gehört, weder von Niall noch von ihrem Vater. Sie flickte die Wämser und Tartans der Armen, lernte zahllose neue Stiche von ihrer Tante, besserte ihre eigene Garderobe aus - und hatte diese Nähstunden gründlich satt. Wie gern wäre sie geritten, auf die Jagd gegangen und geschwommen, bevor der erste Schnee fiel... Und wie schmerzlich sie Niall vermißte...
Jetzt würde er zum erstenmal an Überfällen teilnehmen. Der Herbst war traditionsgemäß die Zeit, wo man aufbrach, um Vieh zu stehlen. Was immer die Fergussons in diesem Jahr erbeuteten - sie würden es nicht verkaufen, sondern behalten, denn sie hatten zu viele Tiere an die MacKinnions verloren.
An einem dunklen Morgen gegen Ende September schob Sheena einen Karren mit Bettwäsche zum Fluss . Die schweren Wolken kündigten ein Gewitter an, und Sheena machte sich Sorgen um ihre Wäsche. Sie hängte die Bettücher lieber am Ufer auf, um sie in der steifen Brise trocknen zu lassen, statt im Hof des Armenhauses, wo die umliegenden Gebäude den Wind abhielten. Wenn es zu regnen begann, musste sie die Laken im Haus aufhängen, und dann würde es den ganzen Tag dauern, bis sie trocken waren. Dieses Mißgeschick war ihr schon einmal widerfahren, und sie hatte bis zum späten Nachmittag im Armenhaus bleiben müssen - bis zur Ankunft der Insassen. Sie wollte die verhärmten, eingefallenen Gesichter, die schmutzigen Kleider nicht mehr sehen, und so hoffte sie inständig, dass es nicht regnen würde.
In aller Eile schrubbte sie ihre Wäsche, und als sie fertig war, hatte sie sich die Hände wundgerieben. Ihre armen Hände - noch vor wenigen Wochen so weiß und glatt... Jetzt waren sie rauh und stark gerötet.
»Braucht Ihr Hilfe, Fräulein?«
Sheena hielt den Atem an und drehte sich hastig um. Sie hatte den jungen Reiter nicht herankommen hören, weil der Wind so heftig blies und raschelnd ihren grünen Rock bauschte.
Der Mann war ein Hochländer, ungefähr in ihrem Alter, und die Farben seines Tartans, der ihm um die Schultern flatterte, glichen ihren eigenen. Sein hübsches Gesicht erschein ihr so freundlich und offenherzig, dass ihre Befangenheit verflog. »Danke für das Angebot«, entgegnete sie mit einem belustigten Lächeln. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein Hochlandkrieger um die Armenhauswäsche kümmern will.«
»Ihr seid eine Bettlerin?«
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