Zorn und Zärtlichkeit
machen!
10.
Sie waren erst eine knappe Meile geritten, als es in Strömen zu regnen begann. Das Gewitter kam Sheena wie ein böses Omen vor, und dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los.
Der Hochländer gab ihr seinen Tartan, den sie sich über den Kopf zog. Danach sah sie nicht mehr, wohin sie galoppierten. Der Junge hatte es offenbar sehr eilig, denn er schien ein Wettrennen mit dem Sturm zu veranstalten. Die Meilen schmolzen unter den Hufen dahin, und Sheena nahm an, dass sie mindestens zwanzig zurückgelegt hatten, bevor das Gewitter aufhörte und der Hochländer die Geschwindigkeit seines Pferdes drosselte.
Sie legte den Tartan ab, der ihr keinen Schutz vor dem starken Regen geboten hatte. Sie war naß bis auf die Haut. Die Mittagsstunde musste längst überschritten sein, doch der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen, und sie konnte nicht schätzen, wie spät es war. Sie ritten durch eine Schlucht zwischen hohen grauen Bergketten, am Ufer eines Flusses. Sheena erschauerte, als ihr bewußt wurde, dass sie sich mitten im Hochland befand. Tränen brannten in ihren Augen, aber sie unterdrückte das Schluchzen, das in ihrer Kehle aufstieg. Sie wollte ihrem jungen Entführer nicht zeigen, wie hilflos sie sich fühlte.
Jetzt trabte das Pferd langsam dahin, erschöpft von der langen Reise. Sheena warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann schaute sie wieder geradeaus. »Ihr habt kein Recht, mich festzuhalten. Meine Familie wird wütend sein.«
»Ihr habt doch zugegeben, dass Ihr allein auf der Welt seid«, erwiderte er seelenruhig.
»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Nun, das spielt auch gar keine Rolle. Die Familie einer Bettlerin kann mir nichts anhaben. Von jetzt an gehört Ihr mir und dürft Euch glücklich schätzen.«
»Was?« rief sie fassungslos.
»Ich werde Euch schöne Kleider schenken und Juwelen, die zu Euren Augen passen. Ihr werdet nie mehr betteln müssen. Seht Ihr nicht ein, dass Ihr Euch freuen könnt?«
Sheena seufzte tief auf. »Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr mich gestohlen habt?«
»Dafür werdet Ihr noch dankbar sein, wenn wir erst verheiratet sind«, entgegnete er lachend.
»Ihr wollt mich heiraten?« stieß sie entsetzt hervor und drehte sich wieder zu ihm um.
»Natürlich. Glaubt Ihr, ich würde Euch beschämen und Euch etwas Geringeres zumuten?«
»Aber Ihr kennt mich gar nicht...«
»Doch. Ihr seid etwas ganz Besonderes, das habe ich sofort gemerkt.«
»Nun, ich heirate Euch jedenfalls nicht, und damit ba-sta!«
»Ihr werdet Euch schon noch anders besinnen.«
Hilfloser Zorn hatte ihre Angst vorübergehend verdrängt, doch als sie ein großes Schloss vor sich aufragen sah, dessen Türme in düsteren Abendwolken verschwanden, wurde ihr wieder bang ums Herz. »Ist das Euer Zuhause?« fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ja«, bestätigte er stolz. »Es sieht nicht besonders einladend aus, aber drinnen ist es sehr gemütlich.«
»Was für eine riesengroße Festung... Seid Ihr mit dem Laird verwandt?«
»Ich bin sein Bruder.«
Sheena wusste nicht, ob sie aus dieser Neuigkeit Hoffnung schöpfen sollte oder nicht. Der Laird könnte sicher veranlassen, dass sie nach Aberdeen zurückgebracht würde. Aber vielleicht verwöhnte er seinen jüngeren Bruder und erfüllte ihm alle Wünsche.
»Leider muss ich Euch für eine kleine Weile verstecken«, sagte ihr Entführer, während sie sich einer langen, zu beiden Seiten von Türmen begrenzten Mauer näherten. Zum erstenmal, seit Sheena ihn kannte, klang seine Stimme unsicher. »Mein Bruder darf nichts von Eurer Anwesenheit erfahren, bevor er meine Pläne gebilligt hat.«
»Fürchtet Ihr Euch vor ihm?«
»Unsinn!« Er lachte ohne Überzeugungskraft.
»Ihr braucht seine Erlaubnis, um mich heiraten zu können, nicht wahr?«
»Ja.«
»Würde er gestatten, dass Ihr eine Bettlerin zur Frau nehmt?«
»Wenn ich ihm klarmache, wie sehr ich Euch begehre, wird er zustimmen.«
Doch sein Selbstbewußtsein hatte merklich nachgelassen, und Sheena begann, ihre Lage in etwas rosigerem Licht zu sehen.
Das Tor stand offen, und sie ritten in einen großen Hof. Vor ihnen erstreckte sich die Halle mit zwei Türen an beiden Enden, zur Linken mit einem zweistöckigen, quaderförmigen Bau verbunden, an dem zwei Außentreppen zum zweiten Stockwerk führten. Rechts lag der Stall. Entlang der Außenmauer erhoben sich mehrere Rundtürme, zwischen kleineren Gebäuden.
»Willkommen in meinem Heim!« sagte der Junge höflich. Sheena
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