Zorn und Zärtlichkeit
Seine Stimme klang so verblüfft und bestürzt, dass sie in schallendes Gelächter ausbrach.
»Natürlich! Glaubt Ihr, ich würde mich hier abplagen, wenn ich es nicht müßte?«
»Ihr seht nicht aus wie eine Bettlerin.«
»Nun ja - ich bin erst vor kurzem in Not geraten.«
»Habt Ihr keine Familie?«
»Ihr stellt zu viele Fragen, mein Herr, und Ihr verschwendet Eure Zeit«, erwiderte sie in strengem Ton, aber ihre Augen funkelten fröhlich. Es war so lange her, seit sie zum letztenmal mit einem gleichaltrigen Menschen gesprochen hatte, und es machte ihr großen Spaß, vor allem, weil er so gut aussah. Sie wünschte, er würde noch ein wenig bei ihr bleiben. Doch dazu war er sicher nicht bereit. »Es wird bald regnen«, fügte sie seufzend hinzu, »und dann wird meine Wäsche naß.« Sie bückte sich, um das letzte Laken auszuwringen, und hängte es zu den anderen an die Bäume am Fluss ufer. Als sie sich wieder umdrehte, stand der Mann hinter ihr. Jetzt sah sie, dass er viel größer war als sie.
»Ihr seid eine seltene Schönheit«, sagte er und musterte sie mit unverhohlener Bewunderung. »Ich sah Euch am Rinderhof vorbeigehen.«
»Und da habt Ihr beschlossen, mir zu folgen?«
»Ja. Darf ich Euch küssen?«
»Wenn Ihr das wagt, ziehe ich Euch die Ohren lang!« rief sie empört.
Er lachte. »Was für ein dreistes Mädchen Ihr seid! Es ist offensichtlich, dass ihr keinen Mann habt, der Euch in die Schranken weist...«
»Und Ihr seid viel zu kühn für meinen Geschmack...« Unbehaglich wich sie seinem Blick aus, der voller Verlangen über ihren Körper wanderte. Jetzt verstand sie nicht mehr, warum sie sich gewünscht hatte, er würde noch ein bißchen bei ihr bleiben. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Sie versuchte an ihm vorbeizugehen, aber er streckte einen
Arm aus, um sie aufzuhalten. »Ihr werdet mir doch nicht davonlaufen - wo ich Euch eben erst gefunden habe? Wenn Ihr auch ein Trugbild sein mögt - ich werde nicht zulassen, dass Ihr Euch in Luft auflöst.«
»Was wollt Ihr von mir?« fauchte sie ihn an.
»Ihr seid viel zu hübsch, um Euer Brot mit so mühsamer Arbeit zu verdienen. Würdet Ihr mit mir kommen? Ich möchte für Euch sorgen.«
»Was für ein verrückter Einfall!« rief sie verächtlich. »Ihr seid noch ein halbes Kind. Wie könnt Ihr da für eine Frau sorgen?«
Der Junge preßte die Lippen zusammen, und Sheena konnte das leidenschaftliche Wesen des Mannes erahnen, zu dem er sich einmal entwickeln würde. Zu spät erkannte sie, welch ein Fehler es gewesen war, ihn zu verspotten. Die Hochländer ertrugen es nicht, wenn man sich über sie lustig machte, und dieser hier schien besonders stolz zu sein.
»Ich hätte Euch nicht danach fragen sollen«, erwiderte er kühl.
»Wie schön, dass Ihr das einseht!«
»Statt dessen hätte ich mir an meinem Bruder ein Beispiel nehmen sollen...«
Der unheilvolle Klang seiner Stimme jagte einen Schauer über Sheenas Rücken.
»Er hätte Euch einfach gepackt«, fuhr er fort. »Und genau das werde ich jetzt tun.«
Blitzschnell hob er sie hoch. Ihr wütendes Geschrei und ihre verzweifelte Gegenwehr schienen ihn nicht zu beeindrucken, sondern eher zu erheitern.
Er verschwendete keine Zeit, setzte sie auf sein Pferd, und im nächsten Augenblick sprang er hinter ihr in den Sattel und umschlang sie mit beiden Armen, so dass sie sich nicht rühren konnte. Eisern hielt er sie fest, während das Tier durch den seichten Fluss zum Südufer watete. Sheenas Stiefel und der lange Rock wurden völlig durchnäßt, aber sie hatte ganz andere Sorgen. Wie würde Tante Erminia das plötzliche Verschwinden ihrer Nichte aufnehmen? Natürlich würde sie die Familie Fergusson verständigen. Der arme Niall... Würde er glauben, seine Schwester wäre davongerannt? Und ihr Vater? Er hatte ihr seinen Schutz verweigert und sie in die Verbannung geschickt. Nur deshalb war sie entführt worden. Er würde sich schreckliche Vorwürfe machen. Doch seltsamerweise empfand sie keine Genugtuung bei diesem Gedanken.
»Wohin bringt Ihr mich?« überschrie sie den Wind.
»Zu mir nach Hause.«
»Für wie lange?«
»Natürlich für immer.«
Wie absurd! Glaubte der Hochländer, er könnte sie einfach behalten - wie eine streunende Hündin, die er von der Straße aufgelesen hatte? Doch da machte er sich falsche Hoffnungen. Sie würde Mittel und Wege finden, um nach Aberdeen zurückzukehren - oder ihre Familie würde sie aufspüren. Und dann konnte er sich auf einiges gefaßt
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