Zorn und Zärtlichkeit
wurde, dass sie mit James MacKinnion allein war - in ihrem Schlafzimmer.
Beklommen schaute sie ihn an. Er starrte auf die offene Tür, durch die Colen soeben gelaufen war. Plötzlich erkannte sie, dass sie keine Angst vor ihm hätte, wenn sie nicht wüßte, wer er war. Sie erinnerte sich an den vergangenen Abend, als sie ihn zum erstenmal gesehen und alles andere als Furcht empfunden hatte. Er war ihr sogar sehr liebenswert erschienen, und sie fand immer noch, dass sie noch nie zuvor einen hübscheren Mann kennengelernt hatte. Und jetzt, wo sie ihn betrachtete, ohne von seinem durchdringenden Blick verunsichert zu werden, faszinierte er sie von neuem.
»Was für ein halsstarriger Bursche!« beklagte sich Jamie. »Anscheinend muss ich Euch selber nach Aberdeen geleiten, Sheena, Colen wird sich wohl kaum dazu bereit finden.«
»Ihr wollt mich in die Stadt bringen?« Ihr Herz begann heftig und schmerzhaft zu schlagen. Wie sollte sie dieser neuen Gefahr entrinnen? »Ihr wart sehr freundlich, aber - das kann ich nicht annehmen. Ich werde meinen Weg allein finden - vielen Dank.«
»Wie Ihr bereits wisst , fühle ich mich für Euch verantwortlich, und deshalb werde ich Euch persönlich bei Eurer Tante abliefern und ein ernstes Wort mit ihr reden. Ich muss ihr klarmachen, dass sie Euch nicht mehr erlauben darf, ohne Begleitung auszugehen.«
Sheena hielt den Atem an. Er wollte mit Tante Erminia sprechen? Dann würde er erfahren, welchem Clan sie angehörten, und sie alle beide ermorden.
»Ihr habt doch so viele Gefolgsleute«, sagte sie hastig, »und Ihr könntet jemanden beauftragen, mich nach Aberdeen zurückzubringen. Es ist nicht nötig, dass Ihr das selber übernehmt.«
Unverhüllte Angst lag in ihren Augen, was ihm nicht entging. Wütend stieß er hervor: »Entweder ich begleite Euch - oder Ihr bleibt hier. Also, wie entscheidet Ihr Euch?«
Sheena gab keine Antwort. Lieber wollte sie hierbleiben und ihn täglich sehen, als auch nur eine einzige Minute allein mit ihm zu verbringen, in einem einsamen Moor. Sie würde einen anderen Weg finden müssen, um von hier wegzukommen.
»Nun, Sheena?«
»Ich - ich gehe nicht mit Euch.«
»Und warum nicht?« fragte er leise.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und erwiderte wahrheitsgemäß: »Ich fürchte, Ihr könntet mir etwas antun.«
Verwirrung verdrängte seinen Zorn. »Warum sollte ich, Sheena? Ihr seid ein reizendes Mädchen, und ich würde mich niemals an Euch vergreifen.« Als sie schwieg, fügte er bestürzt hinzu: »Glaubt Ihr mir nicht?«
»Ich wünschte, ich könnte es - aber ich kann es nicht.«
Jamie schaute sie nachdenklich an. Ihre Angst vor ihm ärgerte ihn maßlos, denn er hatte ihr nichts zuleide getan. Trotzdem würde sie sein Schloss nicht verlassen - nicht ohne ihn. Diese Entscheidung hatte sie selbst getroffen.
»Es freut mich, dass Ihr hierbleiben werdet, Sheena«, bemerkte er.
Verwundert hob sie die Brauen. »Warum?« fragte sie vorsichtig. »Ich werde Euren Bruder trotzdem nicht heiraten.«
»Auch das freut mich«, sagte Jamie grinsend. Seine düstere Stimmung war völlig verflogen.
»Ihr seid froh?« Sheena schüttelte verwirrt den Kopf. »Ihr habt ihm doch Euren Segen gegeben.«
»Mit dem größten Widerwillen.«
»Das ist mir unbegreiflich. Wenn Ihr mich nicht mögt...«
Sein Gelächter unterbrach sie. »Da irrt Ihr Euch, Mädchen! Doch das ist kein Wunder - nachdem ich Euch ständig angeschrien habe.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich will Euch für mich selber haben - deshalb freue ich mich über Euren Entschluß, bei uns zu bleiben. Ich werde Euch beweisen, dass Ihr nichts von mir zu befürchten habt.«
Er ging hinaus und ließ Sheena allein mit ihrem Entsetzen. Sie hatte nichts von ihm zu befürchten? Soeben hatte er ihr größere Angst eingeflößt denn je.
15.
In wildem Galopp ritt Colen zum Mackintosh-Gut und machte seinem Zorn Luft, indem er Pächter belästigte, Herden auseinanderscheuchte und Unfug trieb, wo er nur konnte.
Es war schon dunkel, als er ins Schloss zurückkehrte und erfuhr, dass seine hochgeschätzte Sheena nun doch bleiben würde. »Aber ich bezweifle, dass wir viel von ihr sehen werden«, fügte Jamie mißmutig hinzu, nachdem er seinem Bruder die Neuigkeit erzählt hatte.
»Warum nicht?«
»Ich glaube, sie will sich im Turm verkriechen. Jedenfalls hat sie das heute den ganzen Tag getan.«
»Ist sie nicht zum Abendessen heruntergekommen?«
»Nein.«
»Sie hat gehungert?« rief
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