Zorn und Zärtlichkeit
Colen empört.
»Reg dich nicht auf, mein Junge«, beschwichtigte ihn Jamie. »Unsere Tante kann sie anscheinend ganz gut leiden. Vorhin hat sie ihr was zu essen gebracht.« Mit einem abgrundtiefen Seufzer fuhr er fort: »Es war gar nicht so einfach, Jessie klarzumachen, was das ganze Getue soll.«
Colen grinste. »Das kann ich mir vorstellen. Hast du ihr erzählt, dass sie eine Rivalin hat?«
Jamie runzelte die Stirn. »Warum sollte ich? Ich habe schon Ärger genug!«
»Natürlich«, neckte Colen seinen älteren Bruder, »es ist ja auch nicht nötig, in einem leeren Bett zu liegen. Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach...«
Jamie antwortete nicht sofort. Vielleicht stimmte das. Er hatte Jessie so wenig wie möglich über Sheena erzählt, ohne zu ahnen, warum. Nun entdeckte er ein Körnchen Wahrheit in Colens Worten, und das störte ihn. Diese Selbstsucht war seiner unwürdig, wobei es keine Rolle spielte, dass ihm diese dunkle Seite seines Wesens bisher nicht bewußt geworden war. »Du hast recht, mein Junge. Ich werde das morgen in Ordnung bringen.«
Colen war überrascht und merkte, dass er sich mit seiner Witzelei nur selber geschadet hatte. Wenn Jamie seine Geliebte wegschickte, würde er mehr Zeit und Lust haben, um Sheena zu umwerben. »Augenblick mal, Jamie«, wandte er hastig ein, »das war nur ein Scherz. Wegen meines dummen Geredes solltest du dir nichts versagen - und Jessie auch nicht.«
»Nein, es war ganz richtig, was du da gesagt hast. Es wäre Jessie gegenüber unfair, wenn ich so täte, als würde sie mich weiterhin interessieren. Nein, es ist besser, jetzt gleich Schluß zu machen - nach nur einer Begegnung.«
»Was - ihr habt nur einmal...«
Jamie lachte. »Schau nicht so entsetzt drein! Ich bin nicht der Platzhirsch, für den sie mich alle halten.«
»Hm...«
Jamie zuckte mit den Schultern. »In Wirklichkeit reizt mich Jessie nicht mehr, seit ich die schöne Sheena kenne.«
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, dass du dich auf ein einziges Mädchen beschränken wirst«, entgegnete Colen, sichtlich mißvergnügt.
Jamie ignorierte die Stichelei. »Dieses rothaarige, blauäugige Mädchen da oben im Turm ist ein Edelstein, der alle anderen überstrahlt. Entweder wird sie mir gehören - oder ich werde nie mehr eine Frau in den Armen halten.«
Colen merkte, wie entschlossen sein Bruder und wie besessen er von Sheena war - vielleicht noch mehr als er selbst. Diese Erkenntnis machte ihm das Herz schwer. »Du wirst sie nicht bekommen, wenn sie's nicht will«, warnte er seinen Bruder. »Das meine ich ernst, Jamie.«
»Habe ich jemals eine Frau genommen, die mich nicht wollte?«
»Ich kenne keine, die dich zurückgewiesen hätte, und so weiß ich nicht, was du mit Sheena tun würdest, wenn sie nein sagt.«
»Ich werde sie nicht zwingen.«
»Es ist sehr schwer, ihr zu widerstehen«, gab Colen zu bedenken.
»Immerhin hast du sie noch nicht angerührt«, erinnerte ihn sein Bruder.
»Ja, aber das war gar nicht so leicht. Ich musste mich sehr beherrschen. Und nun frage ich dich - willst du ihre Gefühle über deine eigenen stellen? Würdest du sie in Ruhe lassen, wenn sie dich nicht will?«
Jamies Augen verengten sich. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich sie zu nichts zwingen werde.«
»Ja - aber du bist es gewöhnt, alle deine Wünsche erfüllt zu sehen und nicht darauf zu warten. Ich überlege mir, ob du warten oder auf etwas verzichten kannst, wonach du dich sehnst?«
»Du stellst zu viele Fragen, mein Junge«, erwiderte Jamie gereizt.
»Würdest du eine Niederlage ertragen?«
»Jedenfalls weiß ich, dass ich deine taktlose Neugier nicht mehr ertrage. Falls ich mich Sheena gegenüber schlecht benehme, erlaube ich dir, mich darauf hinzuweisen-nur dann! Und bis dahin laß mich in Frieden. Jetzt kann ich noch nicht sagen, was ich tun werde - genausowenig wie du.«
Colens Unbehagen wuchs. Er kannte das leidenschaftliche Temperament und die Ungeduld seines Bruders. Was würde Sheena widerfahren?
»Sie bleibt also lieber hier, wo sie gar nicht sein möchte - statt allein mit dir zu jenem Ort zu reiten, nach dem sie sich sehnt?« fragte er.
»Sie fürchtet sich vor mir, und ich muss ihr beweisen, dass sie keinen Grund dazu hat«, erklärte Jamie seufzend.
»Wenn du deine Gefühle im Zaum halten kannst, wird ihre Angst vielleicht nachlassen«, entgegnete Colen. »Um ehrlich zu sein - ich hoffe, dass dir das nicht gelingen wird.«
16.
Sheena sank in die
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