Zorn und Zärtlichkeit
erklärte er gelassen. »Doch darauf kommt es gar nicht an, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass Euch mein Bruder unmißverständlich mitgeteilt hat, warum Ihr hier ein neues Zuhause finden sollt.«
Die Wendung, die das Gespräch zu nehmen drohte, brachte Sheena in Wut. »Er will, dass ich ihn heirate!«
»Damit haben seine Wünsche nichts zu tun. Es geht ihm nur um Euer Wohlergehen, Fräulein.«
»Ich habe nicht um seine Fürsorge gebeten - und auch nicht um die Eure.«
»Euer Verhalten ist wirklich seltsam«, meinte Jamie nachdenklich. »Jede andere in Eurer Lage, jedes alleinstehende, mittellose Mädchen würde mit beiden Händen zugreifen, wenn es die Möglichkeit hätte, ein gesichertes Leben zu führen. Warum lehnt Ihr dieses Angebot ab?«
»Ich lasse mich nicht zur Ehe zwingen.«
»Ihr mißversteht mich, Sheena«, erwiderte Jamie geduldig. »Ich biete Euch ein Heim, einen Clan, dem Ihr angehören sollt - ob Ihr meinen Bruder nun heiratet oder nicht.«
Unbehaglich senkte sie den Kopf. Da er sie als heimatlose Bettlerin betrachtete, war sein Angebot sehr großzügig. Andererseits - wenn er die Wahrheit wüßte, würde er ihre Weigerung zweifellos verstehen. Wie könnte sie jemals bei den Feinden ihres Clans leben? Doch er war freundlich zu ihr, womit sie nie gerechnet hätte, und es bedrückte sie, dass sie nun in seinen Augen undankbar erscheinen musste .
»Ich - ich bin Tiefländerin«, antwortete sie nach einer langen Pause und suchte Zuflucht bei der ersten besten Ausrede, die ihr einfiel. »Und ich bringe es einfach nicht über mich, hierzubleiben - wenn ich Euch auch für diese liebenswürdige Einladung danke.«
»Sind wir wirklich so furchtbar, wie man es Euch von Kindesbeinen an eingebleut hat?« fragte Jamie lächelnd. »Seht Ihr ungeschlachte Barbaren in dieser Halle?«
»Ich kenne kaum jemanden von Euren Leuten, und deshalb kann ich das nicht beurteilen«, entgegnete sie ausweichend.
»Ihr enttäuscht mich, Mädchen. Wollt Ihr nicht über mein Angebot nachdenken?«
»Nein. Ich passe nicht hierher, und darum ist es am besten, wenn ich sofort abreise.«
Jamie verbarg seinen Ärger nicht. »Wohin wollt Ihr zurückkehren? In die Straßen von Aberdeen? Um zu betteln? Um mühsam für Euren Unterhalt zu sorgen? Ihr müßt mir triftige Gründe nennen, wenn Ihr mir die Verantwortung für Euer Wohl abnehmen wollt.«
Sheena biß sich auf die Lippen. Welch ein Recht hatte er, sie nach ihren Gründen zu fragen?
»Ich möchte dorthin zurückkehren, wo ich mich zu Hause fühle«, sagte sie kühl, »dieser Grund dürfte genügen.«
»Ihr zieht es also vor, Bettlerin zu bleiben. Anscheinend wisst Ihr nicht, was für Euch gut ist.«
Angesichts seines harten Blicks fiel es ihr immer schwerer, ihr Temperament zu bezähmen.
»Das bildet Ihr Euch ein, was? In Wirklichkeit bin ich keine Bettlerin und war niemals eine! Das hat sich Colen nur zusammengereimt. «
»Tatsächlich?« entgegnete er gedehnt. »Warum habt Ihr das die ganze Zeit über verschwiegen?«
»Ich hielt es nicht für nötig, Euch aufzuklären.«
»Nun, jetzt habt Ihr Euch trotzdem dazu durchgerungen.« Jamies Augen verengten sich. »Aus welchem Clan stammt Ihr?«
Sheena wurde blass und überlegte verzweifelt, welchen Namen sie angeben sollte - einen Namen, der ihn beeindruc ken würde. »Ich - ich bin eine MacEwen.«
»Aus dem Clan MacEwen, der über keinerlei Grundbesitz verfügt«, ergänzte er verächtlich.
Sie zuckte zusammen, aber sie nickte tapfer. »Ja.«
Jamie lachte. »Und da behauptet Ihr, dass Ihr keine Bettlerin wärt? Doch genau das sind die MacEwens, nachdem sie enteignet wurden - Bettler und Diebe. Kein Wunder, dass Ihr nicht gestehen wolltet, wer Ihr seid!«
Sein Hohn brachte sie um den letzten Rest ihrer Beherrschung. Wütend sprang sie auf. »Und was sind die MacKinnions? Diebe und Mörder! Ich glaube nicht, dass Ihr darauf stolz sein könnt!«
Jamie erhob sich ebenfalls, und Sheena geriet in Panik. Seine Augen glühten vor Zorn, seine Hände ballten sich, und sie bezweifelte nicht, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Auch Colen war aufgestanden, was den Ernst ihrer Lage noch verdeutlichte.
»Was wisst Ihr von den MacKinnions?« stieß Jamie hervor. »Mit welchem Recht klagt Ihr uns an?«
Kalte Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie versuchte zu sprechen, doch sie konnte es nicht, und so ergriff sie die Flucht.
Sie warf keinen Blick zurück, sah nicht, ob sie verfolgt wurde, und kannte nur einen
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