Zorn und Zärtlichkeit
geschleppt und gnadenlos vor aller Augen getötet hatte. Das erzählte man sich in Angusshire. Sheena hatte die Geschichte oft genug gehört - seit sie denken konnte. Von jenem anderen Mord hatte sie erst jetzt erfahren. Aber - es war ein MacKinnion gewesen, der die Fehde begonnen hatte - das wusste jeder. Und die zwei Brüder gaben einem Fergusson die Schuld... Das wollte sie nicht glauben, andererseits - es war vor so vielen Jahren geschehen - lange vor ihrer Geburt. Wie könnte sie entscheiden, wie es sich in Wahrheit verhielt? Sie war nicht dabeigewesen. James und Colen MacKinnion auch nicht - nur Lydia...
Colen beobachtete sie aufmerksam. »Geht es Euch wieder gut, Sheena?«
»Ja.«
»Dann sagt mir, warum Ihr davongerannt seid«, verlangte Jamie.
Da sie zu beiden Seiten ihres Bettes standen, be Schloss sie, an die Decke zu starren. »Weil Ihr sonst über mich hergefallen wärt, Sir James.«
»Heilige Maria, nichts hätte mir ferner gelegen!« verteidigte er sich erbost.
Zweifelnd sah sie zu ihm auf. »Ihr habt mich angeschrien - so wie jetzt.«
»Und das mit gutem Grund! Ihr habt eine schwere Anklage gegen meinen Clan erhoben, und ich wollte wissen, warum.«
»Seid Ihr vielleicht kein Dieb?«
»Wer wäre das nicht? Aber ein Mörder? Mein Clan tötet niemals zu seinem Vergnügen.«
Sheena wusste es besser, doch da sie von lauter Feinden umgeben war, wagte sie nicht zu widersprechen. »Tut mir leid«, sagte sie leise. »Anscheinend habe ich mich geirrt und Euch unbedacht beschuldigt. Doch Euer Urteil war ebenso voreilig. Ihr glaubt, alle MacEwens wären Bettler und Räuber, aber meine Familie braucht sich nichts dergleichen vorzuwerfen.«
Jamie runzelte die Stirn. »Ihr habt eine Familie? Leben Eure Eltern noch?«
»Mein Vater.«
»Wo ist er?«
Sheena wagte sich erneut in gefährliche Bereiche. Wenn dieser Mann herausfand, dass sie eine Fergusson war, würde er sie zweifellos töten, so wie sein Großonkel ihren Großvater umgebracht hatte.
»Das - weiß ich nicht«, log sie, während sich ihre Gedanken überschlugen. »Er zieht von einem Ort zum anderen.«
»Wie kann ich Euch nach Aberdeen zurückschicken, wenn Ihr dort keinen Beschützer habt?«
Ihre Angst wuchs, und es fiel ihr immer schwerer, klar zu denken. »Ich habe eine Tante in Aberdeen, und ich habe bei ihr gewohnt.«
»Im Armenhaus?« spottete Colen. Er glaubte Sheena kein Wort - weil er ihr nicht glauben wollte.
Mit schmalen Augen starrte sie ihn an. »Meine Tante Erminia ist Nonne. Sie wohnt nicht im Armenhaus, aber sie arbeitet dort - wie die meisten Klosterschwestern. Dieses Haus wäre schon längst zugrunde gegangen, wenn es die Nonnen nicht in Ordnung halten würden. Ich habe Tante Erminia geholfen, um ihr dieses schwere Tagewerk zu erleichtern.«
Jamie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Offensichtlich ist dir ein Irrtum unterlaufen, Colen.«
»Nein -du irrst dich, wenn du diesen Unsinn glaubst!« verteidigte sich der Junge empört. »Wenn das die Wahrheit ist - warum hat sie es nicht von Anfang an gesagt?«
»Ich hatte viel zu große Angst«, erklärte Sheena, doch die beiden hörten nicht auf sie.
»Jedenfalls klingt ihre Geschichte plausibel«, meinte Jamie widerstrebend. »Schau sie doch an! Sieht sie verhungert aus? Sie hat runde Wangen, einen kräftigen Körper... Für eine Bettlerin ist sie viel zu gesund.«
»Kein Wunder! Könntest du ihr ein Almosen verweigern, wenn sie dich drum bäte? Wenn sie auf der Straße stünde und um eine Münze bettelte - wer würde ihr bloß eine geben? Wer würde sie ignorieren? Mit einem solchen Gesicht heimst sogar die elendeste Bettlerin wahre Reichtümer ein. Und genau das ist der Grund, warum sie in die Stadt zurückkehren will.«
»Das stimmt nicht!« rief Sheena. »Ich bin niemals betteln gegangen! Das hatte ich nicht nötig! Meine Familie sorgt gut für mich! Sie ist nicht arm.«
»Wenn sie so gut für Euch sorgt - warum hat sie dann noch keinen Mann für Euch gefunden?« erkundigte sich Colen.
»Ich habe genug Fragen beantwortet«, erwiderte sie tonlos. »Woher nehmt Ihr das Recht, Euch in meine Angelegenheiten einzumischen?«
»Schluß mit dem Gezänk!« mischte sich Jamie ein. »Colen, das Mädchen bedarf unserer Hilfe nicht. Deshalb kann ich sie nicht hier festhalten, um ihr Wohltaten zu erweisen. Du muss t sie nach Aberdeen zurückbringen.«
Colen machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.
Sheena war überglücklich, und so dauerte es eine Weile, bis ihr bewußt
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