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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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macht, reich genug, um etwas von seiner Fülle an die Mitwelt abzugeben.
    In der Regel wird die Schmerzspende an eine präzisierte Adresse ausgeliefert. Doch schießt die Gabe zumeist über den unmittelbaren Empfänger hinaus und affiziert auch dessen Mitwelt. Nicht selten willigt der Schmerzgeber in diesen Überschuß ein: Wenn ein einzelnes designiertes Objekt des Zorns bisher ein leidloses Dasein führte, dann wird seine Umgebung sich wohl in einem ähnlichen Mangel gefallen haben. Insofern scheint es dem Schmerzgeber nie ganz falsch,auch diese in Mitleidenschaft zu ziehen. Je verzweifelter das unbedingte Geben-Wollen des Zornträgers sich ausdrücken will, desto weniger wird es durch eine bestimmte Adressierung eingeschränkt. Wie der zivile Enthusiasmus gelegentlich sich die Millionen umschlungen denkt, so wendet sich der zum Haß erweiterte Zorn an ein Universum von Unbekannten. Er ist ein Affekt, der imstande ist, gleichsam dunkle Allgemeinbegriffe zu bilden und sich in vage Abstraktionen aufzuschwingen.
    Wenn Zorn zu Haß wird, kommen Basisoperationen von Ideologiebildung ins Spiel, da begriffliche Fixierungen bekanntlich das beste Konservierungsmittel für ephemere Regungen abgeben. Wer sich seinen Zorn merken will, muß ihn in Haßkonserven aufbewahren. Konzeptualisierungen des Zorns bieten den Vorteil, reichlich verausgabt werden zu können, ohne den Fundus zu erschöpfen. Dem absoluten Haß, der extremsten Form des Etwas-übrig-Habens für Andere, muß schließlich gar kein bestimmter Gegenstand vor Augen stehen. Gerade seine Abstraktheit, die an Ziellosigkeit grenzt, garantiert sein Überfließen ins Allgemeine. Es genügt ihm zu wissen, daß er sich an die All-Adresse, das verworfene Reale in seinem ganzen Umfang, wendet, um sicher zu sein, sich nicht vergeblich zu verschwenden. Hier wird das Stadium erreicht, in dem von Verausgabung überhaupt, Verausgabung sans phrase , 5 die Rede sein kann. Bei Veräußerungen dieses Ranges setzt der zornige Schmerz-Spender nicht selten sein eigenes Leben in die Rechnung ein. In solchen Fällen macht der Geber aus sich die physische Zugabe zu der Bombe, die das fehlende Leiden herbeischaffen soll.
    Es hat also keinen Sinn, den selbstbewußten Haß mit Begriffen wie Nihilismus in Bezug zu setzen – einer beliebten Erklärungsmode zum
     Trotz. Insgesamt erweist sich der Haßbegriff als analytisch unbrauchbar, da er sich vom Zornphänomen ableitet und nur als eine Form seiner Konservierung intelligibel zu machen ist. Man muß darauf bestehen, daß der zum Standpunkt, ja zum Projekt erweiterte Zorn keineswegs eine Affaire mit dem Nichts unterhält – wie man es gern dem Haß nachsagt. Er ist nicht bloß eine militante Fom von Gleichgültigkeit gegen sich selbst und andere. Auch wenn der Zorn die Handschrift der Rücksichtslosigkeit zeigt, wäre es abwegig zu meinen, es sei ihm alles eins und gleich. Der zum Haß verfestigte Zorn ist der resolute gute Wille, für einen vermeintlich notwendigen Zuwachs an Schmerz in der Welt zu sorgen – zunächst als punktueller Anschlag, der einen dringend postulierten lokalen Schmerz hervorruft –, um sich in entsetzlichen Gerüchten, Schreckensmeldungen und anderen medialen Vergrößerungen fortzusetzen. In dieser Hinsicht ist er die subjektive und leidenschaftliche Gestalt dessen, was die strafende Justiz objektiv und leidenschaftslos verkörpern will. Beide beruhen auf dem Axiom, daß das Gleichgewicht der Welt nach seiner Störung nur durch ein Mehr an Schmerzen an der richtigen Stelle wiederherzustellen sei.
    Bei einzelnen Zornspenden schöpft der Hassende zunächst aus seinem eigenen Vorrat, auf die Gefahr hin, das persönliche Zornvermögen aufzubrauchen. Nichts garantiert dem einfachen Zürnenden die Unerschöpflichkeit seiner Quellen. Solange die zornige Energie nicht in die Projektform, und, über diese hinaus, in die Parteiform (die, wie wir sehen werden, die Bankform einschließt) gebracht ist, steht dem Einzelnen jederzeit die Rückkehr in den Frieden durch Satisfaktion oder Erschöpfung offen. Der kleine Kreislauf von Wut und Abreaktion gehört zu den Basistatsachen emotionsenergetischer Abläufe.
    In dieser Sicht läßt sich das abreaktive Verbrechen als die Manifestation einer Kraft verstehen, die das Recht fordert, sich zu entladen, auch wenn sie sich dabei moralisch ins Unrecht setzt. Daher neigen Verbrechen aus solchen Antriebslagenvon sich aus zur Erschöpfung nach der Tat. Kaum ist das Opfer aus den Augen des

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