Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
um. Als er sicher war, dass er allein war, drehte er sich um, öffnete den Reißverschluss seiner Jeans und pinkelte an die dicke Porphyrwand des Wachturms.
Ein schmaler, abgesteckter Weg verlief zwischen niedrigen Mauerresten und endete am Rand der Hochfläche. Einen Moment stand Eric unentschlossen da, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und schlenderte los. Sein Handy piepste.
Bin gleich da , stand auf dem Display.
»Das will ich dir auch geraten haben«, knurrte er, kickte einen Stein beiseite, sprang zwei Stufen hinauf und stand kurz darauf an der dicken Außenmauer, hinter der es senkrecht in die Tiefe ging.
Unter ihm strömte der Fluss dahin, er sah die Wipfel der Weiden, die Uferpromenade und die Bootsanlegestelle; etwas links, auf der Brücke, rumpelte eine Straßenbahn in Richtung Westen davon.
Weiter rechts musste der kleine Spielplatz sein, er konnte ihn von hier aus nicht sehen, doch der Lärm der Kinder mischte sich mit der undeutlichen Piepsstimme einer Schlagersängerin, die am anderen Ufer in der Freiluftgaststätte eine unbeholfene Version von O la Paloma blanca zum Besten (oder vielmehr zum Schlechtesten) gab.
Die Mauer war breit, fast einen Meter dick und stellenweise mehr als fünf Meter hoch. Eric stand an einer Fensteröffnung, hier reichten ihm die Steine nur bis zur Hüfte, in Brusthöhe war eine Eisenstange quer im Gemäuer verankert.
Eine blaue Tafel verriet, dass der Sage nach ein fränkischer Adliger im Mittelalter aus diesem Fenster in den Fluss gesprungen und so aus der Burg geflüchtet sei.
LANGWEILICH!!!! hatte jemand darunter in die Wand geritzt.
Eric bückte sich unter der Eisenstange hindurch und sah nach unten. Ein Windstoß wehte ihm das Haar aus dem Gesicht, die Steine piksten an seiner Brust, das T-Shirt wurde schmutzig von Mörtel und Staub. Er spitzte die Lippen, holte tief Luft und spuckte, so weit er konnte. Dann beugte er sich noch weiter vor und beobachtete, wie die Spucke an der Mauer entlangsegelte und tief unter ihm zwischen den Bäumen verschwand.
Hinter ihm knirschten Schritte.
»Wird aber auch Zeit, verdammt«, rief Eric, ohne sich umzudrehen. Seine Beine hingen in der Luft, er strampelte ein wenig, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. »Warum, zum Teufel, kommst du erst jetzt? Und was willst du eigentlich mit mir bereden?«
Die Glocken der evangelischen Kirche schlugen.
Es war das Letzte, was Eric Haubold in seinem Leben hören sollte.
Er wurde an den Beinen gepackt und nach vorn gestoßen. Plötzlich schwebte sein Oberkörper in der Luft, er ruderte mit den Armen, griff hinter sich, die Finger seiner linken Hand bekamen die Eisenstange zu fassen.
Ein erneuter Ruck nach vorn, seine Knie schürften über dem Sims, er strampelte verzweifelt, trat mit aller Kraft nach hinten und spürte, wie er etwas Weiches traf. Wieder wurde er mit Gewalt gestoßen, er ließ die Stange los, kippte nach vorn und vollführte eine halbe Drehung.
Im nächsten Augenblick hing Eric Haubold mit den Füßen voran über dem Abgrund und kämpfte um sein Leben.
Seine Hände verkrallten sich im Mauerwerk, panisch versuchte er, Halt zu finden, die Fingernägel rissen, blutend tastete er über die Steine, die Füße trommelten gegen die Mauer auf der Suche nach einem Riss, um den Körper zu stützen.
Langsam, aber unaufhaltsam rutschte er ab. Er hatte die Augen fest zugekniffen, sah nicht, wer ihn da gestoßen hatte, und als er spürte, dass es sinnlos war, stieß er einen leisen Schrei aus und gab auf.
Die Wand war leicht schräg, er schlitterte mit rasender Geschwindigkeit hinab. Unter ihm ging es dreißig, vierzig Meter in die Tiefe, nach ein paar Metern prallte er auf einen Vorsprung und es gelang ihm noch einmal, sich für zwei, drei Sekunden festzuhalten.
Dort hing er in der Wand, wie ein tollkühner Bergsteiger kurz unter dem Gipfel.
Unten, auf der Brücke, war wenig Verkehr. Von Westen näherte sich ein silbergrauer Audi. Als die Fahrerin, eine dreiundzwanzigjährige Kunststudentin, die Gestalt dort oben erblickte, verlor sie vor Schreck die Kontrolle über ihr Fahrzeug und prallte mit einer entgegenkommenden Straßenbahn zusammen. Das Auto war schrottreif, doch die Studentin wurde nur leicht verletzt.
Im Gegensatz zu Eric Haubold.
Scheiße, flüsterte er.
Dann ließ er los.
Er fiel. Vollführte einen letzten, eleganten Salto, immer wieder prallte sein Kopf gegen den Felsen und als er schließlich zwischen den Bäumen aufkam, fand sich
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