Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
verlagert.
»Es wird bestimmt bald regnen. Wird auch langsam Zeit, oder?«
Ein Knall peitscht durch die verlassene Laube. Sie zuckt zusammen. Ein Fensterladen hat sich gelöst und schlägt von außen gegen den verwitterten Rahmen.
»Das ist nur der Wind, mach dir keine Sorgen.«
Seine Stimme dicht an ihrem Ohr. Leise, tröstend.
Sie bekommt kaum Luft, der Lappen in ihrem Mund stinkt nach alter Farbe und Verdünnung. Der Durst ist schlimmer als die Schmerzen in den Handgelenken, schlimmer als das Gefühl, dass ihre Augen langsam absterben.
»Ich bin verdammt müde«, wiederholt er. Es klingt, als unterdrücke er ein Gähnen. »Ich muss mich ein wenig zu dir legen. Du hast doch nichts dagegen?«
Sie spürt sein Gewicht neben sich. Versucht, so weit wie möglich von ihm abzurücken, doch die Fesseln an den Händen lassen ihr keinen Raum.
»Hab dich nicht so.«
Jetzt scheint er verärgert. Sie entspannt sich ein wenig, er rückt dicht an sie heran und legt einen Arm über ihre Hüfte. Der Hund jault auf, zerrt an der Leine, seine Krallen klicken auf den Dielen.
Die Matratze neben ihr bewegt sich.
»Halts Maul«, sagt er und richtet sich auf.
Sie beginnt zu zittern, ihre Beine trommeln auf und ab.
»Dich meine ich nicht.«
Wieder streicht seine Hand über ihre Wange. Sein Mund ist dicht an ihrem Ohr, sie spürt seinen Atem am Hals.
»Wir haben noch ein paar Stunden Zeit«, flüstert er. »Lass uns ein wenig ausruhen. Du bist doch bestimmt auch müde, oder?«
Sie nickt. Was soll sie auch anderes tun? Sie will überleben, und sie hat einen Plan. Es ist schmerzhaft, o ja, das ist es. Aber mit Schmerzen kennt sie sich mittlerweile aus. Es kann funktionieren.
Er darf nur nichts davon merken.
*
Der dicke Schröder saß vor dem Computer und schrieb eine E-Mail. Die Bürotür stand halb offen, draußen, auf dem Gang, herrschte Hochbetrieb. Irgendwo nebenan ertönte die Titelmelodie der Tagesschau. Es war acht Uhr, trotzdem wurde im Präsidium unter Hochdruck gearbeitet.
Schröder starrte konzentriert auf den Monitor, seine Finger flitzten über die Tastatur. Die linke Hand war noch immer gerötet, die Brandblasen vernarbten langsam, nur am Daumen glänzte ein nässender, hässlicher Fleck.
Das Fenster hinter ihm war geschlossen. Draußen zogen schwere bleifarbene Wolken über den Himmel, es war schwül, die große Kastanie auf dem Parkplatz bewegte sich träge im heißen Wind.
Er schickte die Mail ab und fuhr den Rechner herunter. Der Monitor wurde schwarz, auch im Zimmer herrschte plötzlich ein diffuses Halbdunkel. Schröder stand auf und schaltete das Licht ein. Flackernd erwachte die Neonröhre zum Leben.
Er kniff die Augen zusammen.
»Zu hell«, murmelte er, machte das Licht wieder aus und schloss die Tür.
Plötzlich war es ruhig im Zimmer.
Er öffnete den Aktenschrank neben dem Nigel-Kennedy-Plakat. Im obersten Fach schob er ein paar Ordner beiseite, stellte sich auf die Zehenspitzen und griff hinein. Zum Vorschein kam eine durchsichtige Plastikflasche. Sie war unbeschriftet, er schüttelte sie kurz, schraubte sie auf und ließ ein paar Tabletten in die geöffnete Handfläche fallen.
Vorsichtig nahm er eine der Pillen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie war hellgrün, in der Mitte eingekerbt. Ein paar Sekunden stand er unentschlossen da.
Das leise Surren des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.
»Sagen Sie Bolldorf, dass er sich zusammenreißen soll«, sagte er, nachdem er eine Weile zugehört hatte. »Wir brauchen ein Phantombild. Der Mann geht erst nach Hause, wenn er etwas Brauchbares abgeliefert hat. Und wenn es die ganze Nacht dauert.«
Schröder legte auf. Die Tablette hielt er noch immer in der Hand. Er musterte sie eingehend, langsam fuhr sein Fingernagel über die glänzende Oberfläche. Seine Wangenmuskeln strafften sich unter der blassen Haut.
»Ich brauch das Zeug nicht«, murmelte er leise.
Ging zum Schrank, holte die Flasche hervor und warf sie in den Papierkorb.
*
Er schläft. Fest und tief, wie ein Kind.
Und er sabbert, so dicht liegt er neben ihr, dass sein Speichel auf ihre Wange tropft und am Hals hinunterläuft. Ab und zu murmelt er im Schlaf, unverständliches Zeug, Worte, die sie nicht verstehen kann. Und auch nicht will.
Sie starrt zur Decke, mit leeren, blicklosen Augen. Bewegt die linke Hand, hin und her, so, wie sie es seit Stunden getan hat.
Das Rohrstück hinter ihr ist fest, sie hat schnell gemerkt, dass sie es nicht lockern kann. Es kommt aus dem Boden,
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