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Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Reaktion. Die Plane gab ein leises Knistern von sich.
    »Ich hab dich was gefragt.«
    Er bückte sich. Mit einem Ruck riss er die Plane beiseite. Staub wirbelte auf und verteilte sich in der engen Kammer. Der Hund wich erschrocken zurück.
    Die Gestalt lag auf dem Rücken, die Hände hielt sie über den Kopf ausgestreckt. Hinter ihr ragte ein Rohr aus der Wand, sie war mit Handschellen daran gefesselt.
    Er hockte sich neben sie.
    Ihre Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, sie waren gerötet und trübe, ein dünner Schleier lag über den Pupillen. Die Augenlider waren hochgeklappt, er hatte sie mit durchsichtigem Klebeband fixiert, das in zwei schmalen, senkrechten Streifen über den Augenbrauen bis zum Haaransatz verlief. So fest, dass sie unfähig war, zu zwinkern oder die Augen zu schließen.
    In den Mund hatte er ihr einen Lappen gestopft und mit einem alten Handtuch befestigt, das er ihr im Nacken verknotet hatte. Ihr Gesicht war schmutzig, das Haar klebte in wirren Strähnen an der Stirn. Rotz lief ihr aus der Nase, unter dem linken Auge hatte sich ein dicker Bluterguss gebildet.
    Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.
    »Hast du mich vermisst?«
    Martha Haubold stöhnte leise und wandte den Kopf ab.
    *
    Zorn hatte den Volvo in einer Nebenstraße kurz vor dem Bahnhof geparkt. Eigentlich war er auf dem Rückweg vom Krankenhaus ins Präsidium gewesen, doch der Gedanke an die Menschen, denen er dort über den Weg laufen würde, ließ ihm übel werden. Er konnte jetzt niemanden sehen.
    Der Tod des Priesters hatte Claudius Zorn mehr mitgenommen, als er erwartet hätte. Sicherlich, so, wie es jetzt aussah, trug er nach logischem Ermessen keine Schuld. Auf dem Aussichtsturm war ihm keine Zeit zum Nachdenken geblieben, er hatte blitzschnell reagieren müssen. Seine Entscheidung war gegen den Priester und für Max Brandt gefallen, und damit, das glaubte er auch jetzt noch, hatte er in diesem Moment recht gehabt. Daran gab es nichts zu rütteln. Punkt.
    Natürlich, er hatte gezweifelt, das schlechte Gewissen hatte ihn geplagt, aber er war sicher gewesen: Im Laufe der Ermittlungen würde sich herausstellen, dass er, Zorn, richtig gehandelt hatte. Und es hatte ja die Hoffnung bestanden, dass Giese überleben würde.
    Doch das Gegenteil war der Fall. Jetzt, eine knappe Woche später, war der Priester tot. Es gab nicht den Hauch eines Motivs und die Zusammenhänge lagen noch immer völlig im Dunkeln. Mehr noch, je mehr sie herausfanden, desto verworrener wurde alles.
    Zorn fühlte sich schuldig. Er hatte sich planlos durch die Ermittlungen gewühlt, lustlos, ohne großes Interesse, er hatte in diesem Fall herumgestochert wie in einem Teller zerkochter Spaghetti. Der Gedanke, dass er vielleicht doch vorschnell gehandelt hatte, dass er Gieses Tod hätte verhindern können, wenn er besser vorbereitet gewesen wäre, brachte Zorn schier zur Verzweiflung. Es gab da etwas, das er bisher nicht gesehen hatte. Entweder aus Dummheit oder aus Faulheit, er wusste es nicht genau.
    Sein Job war ihm nie wichtig gewesen, die letzten zwanzig Jahre hatte er immer nur mit halber Kraft gearbeitet. Er hatte sich zwar gelangweilt, aber mit seiner Trägheit wenigstens keinen großen Schaden angerichtet. Aber jetzt? Nun hatte er womöglich einen Menschen auf dem Gewissen. Was hatte Schröder gesagt?
    Der Priester hatte keine Chance.
    Nein, die hatte er wohl nicht, überlegte Zorn und startete den Motor. Spätestens dann nicht mehr, als ich ihn gestoßen habe. Er war unschuldig, da bin ich sicher. Ich bin für den Tod eines Menschen verantwortlich. Ich allein.
    Scheiße. Es hilft nichts, ich muss rausfinden, was passiert ist.
    Er legte den Gang ein und fuhr los.

Achtundzwanzig
    »Ich bin müde.«
    Sie dreht den Kopf nach rechts, in die Richtung, aus der sie seine Stimme hört. Er spricht leise, und es klingt, als habe er wirklich Mühe, sich wach zu halten. Ihre Augen sind weit aufgerissen, doch sehen kann sie ihn nicht, nur ein paar helle, verzerrte Punkte. Als hätte sie Milchglas vor den Pupillen.
    Anfangs war es schlimm: Da war der unbändige Drang, die Augen zu schließen oder wenigstens kurz zwinkern zu können. Dazu kam das Wissen, dass das Klebeband dies verhinderte. Jetzt, Stunden, vielleicht Tage später, ist es anders. Das Jucken hat schon lange aufgehört, ihre Augen sind tot, ausgetrocknet und nutzlos, wie verdorrte Äpfel.
    Sie hört das Rascheln seiner Kleidung, als er das Gewicht von einem Bein aufs andere

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