Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
doch nett, oder?«
Zorn nickte schweigend.
Durch die Zaunlücken erkannte man undeutlich die Dächer der Lauben, links von ihnen wuchs ein mannshoher Holunderbusch, rechts lag eine dicke weißblonde Frau in dunkelbraunem Badeanzug auf einem geblümten Handtuch und schlief. Letzteres schloss Zorn aus dem leisen, aber unüberhörbaren Schnarchen, das unter der zusammengefalteten Bild-Zeitung, die sie sich über das Gesicht gelegt hatte, hervordrang. JAHRHUNDERTSOMMER! MANDY WIRD GANZ HEISS! , stand unter dem Foto einer halbnackten, debil grinsenden Frau mit enormen Brüsten.
Schröder breitete die Decke aus, zog die Ecken sorgfältig gerade und ließ sich mit einem zufriedenen Ächzen niedersinken. Als Zorn die Jeans auszog, verlor er kurz das Gleichgewicht und wäre um ein Haar über die Füße seiner schlafenden Nachbarin gefallen.
Schröder saß im Schneidersitz auf der Decke und kramte in seinem Picknickkorb. Er sah kurz auf, als Zorn sein Handtuch neben ihm ausbreitete und darauf Platz nahm. »Komm her, Chef«, sagte er und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf den Boden, »hier ist genug Platz. Ich hab die Decke für uns beide mit. Magst du eine Erdbeere?«
»Nee«, sagte Zorn und rutschte zu Schröder hinüber. »Danke.«
»Selbstgepflückt, die sind lecker.«
Er hielt ihm eine Erdbeere entgegen. Sie sah wirklich verlockend aus. Rot und saftig, wesentlich appetitlicher als eine schnöde Kiwi aus dem Supermarkt. Oder eine matschige Birne.
»Na gut«, meinte Zorn und steckte sie in den Mund.
»Und?«
»Hervorragend.«
»Sag ich doch«, erwiderte Schröder zufrieden. »Ich hab Kaffee mit, leider nur schwarz. Und es gibt Brote, Salami und Käse, wie du magst.«
»Toll«, sagte Zorn kauend. Langsam bekam er tatsächlich Hunger. »Gehst du nicht ins Wasser?«
»Warum?«
»Du hast dich gar nicht ausgezogen.«
»Das ist besser so.«
Zorn dachte an die Narbe, die irgendwo unter dem geblümten Hemd verborgen sein musste, und nickte schweigend. Schröder holte ein zerlesenes Buch aus dem Korb, stützte den Kopf auf den Arm und schlug es auf. »Ich krieg sofort Sonnenbrand. Und auf Baden hab ich keine richtige Lust.« Er griff sich eine Erdbeere und begann zu lesen.
Jetzt fiel Zorn der demütigende Abend ein, als Schröder ihn vor einem Vierteljahr in der Schwimmhalle so vernichtend geschlagen hatte. Nun, ein Wettschwimmen war heute sowieso nicht möglich, registrierte er befriedigt und warf einen Blick auf das völlig überfüllte Becken.
»Was liest du da eigentlich?«, fragte er und schielte nach der Schale mit den Erdbeeren. Nach kurzem Zögern zündete er sich eine Zigarette an.
»Immanuel Kant.« Schröder klappte das Buch zusammen und hielt ihm den zerknickten Einband entgegen.
Kritik der reinen Vernunft , las Zorn. Davon hatte er noch nie gehört. »Und? Ist es gut?«
»Ich bin noch nicht sicher, Chef. Ich les es erst zum dritten Mal.«
»Ach so.« Zorn ließ sich zurücksinken und stützte sich auf die Ellenbogen. Stieß den Rauch aus, spitzte die Lippen und versuchte, ein paar Ringe zu erzeugen, was ihm wie immer nicht gelang. Es war Mittag, die Sonne stand senkrecht über ihnen. Zorn blinzelte, Schweißtropfen bildeten sich auf seinen Schläfen und rannen langsam an seinem Hals hinab. Er fühlte sich wohl, aber ein wenig langweilig war ihm auch.
»Morgen vernehmen wir erst mal diesen Priester, oder was sagst du?«
»Hm«, machte Schröder, vollständig in seine Lektüre vertieft.
»Danach wissen wir bestimmt mehr.«
»Hm.«
Schröder blätterte um.
Im großen Becken drängten sich die Badenden, links, vom Sprungturm, flogen die Menschen im Sekundentakt in das aufspritzende Wasser.
Schröder ließ ein anerkennendes Brummen vernehmen. »Dieser Kant war wirklich nicht dumm. Hör mal«, sagte er und las vor: »Das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in allen Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten, und daher die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt.«
Er drehte sich um, schob den Hut aus der Stirn und sah zu Zorn auf. »Interessant, oder?«
Das Schnarchen der Frau neben ihnen ging in ein tiefes Grunzen über.
Zorn nahm die Sonnenbrille ab und überlegte. Entschied dann, dass er absolut nichts verstanden hatte, drückte die Zigarette im Gras aus, stand auf und streckte den Rücken.
»Ich hüpf mal ins Wasser.«
Schröder wandte sich wieder
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