Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
seinem Buch zu.
»Du solltest dich eincremen, Chef.«
*
Direkt hinter dem Zaun, keine fünfzig Meter von Zorn und Schröder entfernt, saß ein altes Ehepaar auf einer Bank im Schatten vor seiner Gartenlaube und genoss den Sonntag. Besser gesagt, die beiden versuchten es, denn die Bäume und das Unterholz boten zwar einen passablen Sichtschutz, doch der Lärm, der vom Bad herüberschwappte, war nicht zu überhören.
»Kaum scheint ein bisschen die Sonne, muss sich die gesamte Stadt in dieses Bad bewegen, oder?«, sagte Frau Kalze vorwurfsvoll und faltete die Hände über ihrem üppigen Bauch.
Herr Kalze, ein dünner Mann mit dünnem Haar und noch dünnerem Schnauzbart, schwieg. Trank einen Schluck Kaffee, betrachtete die Tasse stirnrunzelnd, brummte etwas Unverständliches und schwieg dann weiter.
»Oder etwa nicht?«, hakte Frau Kalze nach.
»Es ist eben Sommer, da gehen alle baden«, sagte Herr Kalze.
»Aber warum unbedingt hier? Man kann doch auch in ein anderes Bad. Oder an einen See. Es gibt doch auch schöne Seen in der Nähe, oder?«
»Die Seen sind bestimmt auch voll.«
»Trotzdem.«
Frau Kalze blieb störrisch.
Herr Kalze kratzte sich den mageren Oberarm, zupfte den Schnurrbart und trank noch einen Schluck Kaffee. Früher hatten ihn seine Freunde Tetzlaff genannt, nach einer Fernsehserie aus den Sechzigern, die Hauptfigur hieß Alfred, Ekel Alfred. Alle hatten behauptet, er würde diesem Alfred ähnlich sehen. Obwohl er, Herr Kalze, überhaupt nicht eklig war. Er wollte nur seine Ruhe, mehr nicht. Aber das war egal. Die meisten seiner Freunde hatte er sowieso seit Jahren nicht mehr gesprochen.
»Wahrscheinlich gefällt’s den Leuten dort besser«, brummte Herr Kalze.
»Wo?«
»An einem von den Seen. Da ist es doch ruhiger.«
»Sag ich doch! Was wollen die Leute dann hier?«, fragte Frau Kalze.
»Vielleicht denken sie, dass es an den Seen zu voll ist, und gehen deshalb lieber hierher.«
»Aber hier ist es doch noch voller!«
Er legte die Zeitung beiseite. Seit sieben Jahren war er jetzt in Rente, doch noch immer las er zuerst den Wirtschaftsteil, schließlich war er sein ganzes Leben Rechnungsprüfer gewesen, genauer gesagt, leitender Buchhalter in einem Baukombinat. Er vermisste seine Arbeit, vor allem aber vermisste er das Rechnen.
»Oder etwa nicht?«, fuhr Frau Kalze fort, die die unschöne Angewohnheit hatte, jede Feststellung mit einer Frage zu beenden.
»Wenn du meinst«, sagte Herr Kalze und rechnete in Gedanken nach. Sie waren jetzt seit zweiundvierzig Jahren verheiratet. Das waren zweiundvierzig Sommer, in denen sie so gut wie jeden Sonntag hierher in ihren Garten gefahren waren. Wenn er davon ausging, dass das Bad an zwölf Sonntagen im Jahr geöffnet hatte, dann hatten sie dieses Gespräch … er rechnete kurz nach … ungefähr fünfhundertmal geführt. Nein, korrigierte er sich, wenn schlechtes Wetter war, kam natürlich niemand ins Bad, diese Sonntage musste man abziehen, da war es ruhiger. Wie oft regnete es im Schnitt? Nun, ungefähr drei, vier Tage waren das bestimmt, also blieben acht Sonntage, die er …
»Hast du die Tomaten gegossen?«, unterbrach ihn Frau Kalze.
»Mach ich nachher.«
Dreihundertmal. Dreihundert nahezu wortgleiche Dialoge. Mindestens. Na ja, auch das war mehr als genug.
Rumms! Rumms! Rumms!
Ohne Unterbrechung donnerten die Springer ins Becken, einer Explosion folgte die nächste. Dazu das Geschrei der Kinder, die schrille Pfeife des Bademeisters.
»Und die Erdbeeren, vergiss die Erdbeeren nicht.« Frau Kalze griff hinter sich, wo ihr Strickzeug auf einem kleinen Tischchen lag. Die Bank knarrte bedenklich unter ihrem Gewicht. »Morgen mach ich uns eine schöne Torte, was meinst du?«
»Das ist fein«, erwiderte Herr Kalze und nahm seine Zeitung.
*
Claudius Zorn trabte leichtfüßig, die Schultern gestrafft, den Bauch ein wenig eingezogen, Richtung Sprungturm. Nach ungefähr fünfzig Metern stolperte er über ein muskulöses Beinpaar (was nicht weiter verwunderlich war, schließlich sah er ohne Brille nur verschwommene Umrisse). Er wollte eine Entschuldigung murmeln, diese blieb ihm jedoch im Halse stecken, denn plötzlich erkannte er das breite Gesicht, das zu den kurzen, kräftigen Waden gehörte: Udo Kempff lümmelte auf dem Rücken, die Augen hatte er mit der Hand gegen die Sonne abgeschirmt. Neben ihm lagen zwei braungebrannte Teenager, Zorn erkannte sie sofort, er hatte sie bereits auf einem Foto gesehen: Eric Haubold hatte die
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