Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
gesagt.«
»Ich mache das, was du machst«, hatte der kleine Claudius brav bestätigt.
»Genau. Und jetzt hör mir genau zu.« Gernot senkte die Stimme. »Das zweite ist: Sieh nicht in den Kelch. Niemals, verstehst du?«
Das hatte Claudius nicht verstanden, aber er hatte genickt.
Zunächst hatte alles geklappt. Der Altarraum der Kirche war ein wenig erhöht, eine Bühne, auf der er für jeden sichtbar war. Alle, insbesondere die Mädchen (da war er sicher) sahen zu ihm auf. Er kam sich zwar ein wenig albern vor in seinem rotweißen Messgewand, aber es war immer noch besser als der Anzug, den er sonst an den Sonntagen tragen musste. Aus den Augenwinkeln behielt er Gernot ständig im Blick und tat das, was Gernot tat.
Die Predigt war vorbei, die Orgel brauste auf. Großer Gott, wir loben Dich! , sang die Gemeinde. Gernot kniete neben Claudius seitlich vor dem Altar und krähte aus vollem Hals mit, er war vollständig unmusikalisch und noch dazu im Stimmbruch, eine unheilvolle, fast schmerzhafte Mischung für die, die sich in seiner Nähe befanden.
Dann kam der Höhepunkt, die Wandlung von Brot und Wein. Der Vikar, ein massiger Mann um die dreißig mit schütterem, nach hinten gekämmtem Haar, Hängebacken und Dackelblick (er erinnerte ein wenig an eine traurige Dogge, die Ministranten nannten ihn Waldi – natürlich nur, wenn er nicht in der Nähe war), gab ihnen unauffällig ein Zeichen und sie schritten feierlich zum Altar, Claudius reichte ihm die Schale mit den Hostien, Gernot trug den Kelch mit dem Messwein.
Das ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird , sang Waldi, der Vikar, und hielt eine Hostie in die Höhe. Er hatte eine schöne, volltönende Stimme, und Claudius bekam ein wenig Gänsehaut, denn es war ein feierlicher, unerklärlicher Moment, in dem sich ein Stück Oblate in etwas Heiliges, Mystisches verwandelte. Dann griff der Vikar zum Kelch: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für Euch und für alle vergossen wird.
Die Orgel dudelte einen leisen, etwas stockenden Choral, der Priester trat neben den Altar und wandte sich an die Ministranten. Jetzt kam das Wichtigste, die Kommunion. Sie beide, Claudius und Gernot, waren die Ersten, die eine Hostie bekamen.
Und das Coolste war: Sie waren die einzigen, die auch noch von dem Wein trinken durften.
Tu das, was ich mache , hatte Gernot gesagt. Claudius hatte sich daran gehalten.
Es wurde still in der Kirche. Der Vikar legte jedem von ihnen eine Hostie auf die Zunge, erklärte, dass dies der Leib Christi sei, ging zurück zum Altar und holte den Wein.
Sieh nicht in den Kelch , hatte Gernot gesagt.
Er trank als Erster, der Priester wischte den Rand des Kelches mit einem weißen Leinentuch ab und reichte ihn an Claudius weiter.
Das Blut Christi , sagte Waldi, der Vikar und hielt ihm den Kelch vor das Gesicht.
Natürlich sah der kleine Claudius hinein.
Nicht, weil er gegen irgendetwas aufbegehren wollte (das war eine Eigenschaft, die er erst später erhalten sollte), sondern weil er neugierig war.
Das Innere des Kelches bestand aus poliertem Messing, auf dem Boden schwappte ein kleiner Schluck Weißwein. Das war zu erwarten gewesen. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Anblick seines eigenen Spiegelbilds.
Etwas Ähnliches hatte er schon einmal auf dem Jahrmarkt erlebt, da gab es Hohlspiegel, die so verzerrt waren, dass man klein, dick, dünn oder lang erschien, wenn man hineinblickte. Das war ganz lustig gewesen, aber sonderlich beeindruckt hatte es ihn nicht.
Jetzt allerdings erschien sein Spiegelbild in wenigen Zentimetern Abstand, seine Nase hatte plötzlich die Größe eines Luftballons, als er den Mund öffnete, um zu trinken, glänzten ihm riesige, groteske Hasenzähne entgegen. Das, was ihn da anstarrte, war kein katholischer Ministrant, sondern eine absurde Mischung aus Bugs Bunny und Kermit, dem Frosch. Als er dann den überdimensionalen Popel in seinem linken Nasenloch bemerkte, konnte er nicht mehr anders.
Claudius Zorn fing an zu lachen.
Kurz nur, es waren eigentlich nur zwei, drei helle Kiekser, doch plötzlich war es sehr still in der Kirche. Bis auf dieses Lachen, das bis hinauf zur Orgelempore drang, von den hohen Wänden zurückgeworfen wurde und dann wieder verklang. Doch es hallte lauter nach als ein Donnerschlag.
Der Priester schien kurz zu erstarren, von den hinteren Bänken erklang ein Husten, weiter vorn scharrte jemand mit den Füßen. Dann setzte die Orgel ein, und alles nahm seinen
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