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Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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allenfalls dazu geeignet, als hübsche Staubfänger im Regal zu liegen, ohne einen praktischen Sinn.
    Dieser Mann verschweigt mir etwas, dachte Zorn, und er versteckt sich hinter seinen Floskeln. Er spürte, dass er so nicht weiterkommen würde, also stand er auf und verabschiedete sich.
    Vor dem Gemeindehaus reichte Giese ihm die Hand. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Herr Kommissar.«
    »Welche?«
    »Ob Sie an Gott glauben.«
    »Nein«, erwiderte Zorn schnell. »Das tue ich nicht.«
    »Das tut mir leid für Sie«, erwiderte Giese. Noch immer hielt er Zorns Hand in der seinen. »Sehr leid.«
    *
    Claudius Zorn verlor seinen Glauben an Gott kurz vor elf Uhr morgens an einem warmen Frühlingssonntag. Es war zwei Tage nach seinem zwölften Geburtstag, die Schulferien waren gerade zu Ende und er war glücklich. Sehr glücklich sogar, denn er hatte ein Tarzan-Buch (eine deutsche Erstausgabe aus dem Jahre 1921, welche er zwei Jahre später gegen eine Genesis-Platte tauschen sollte) und einen Walkman geschenkt bekommen. Dazu hatte ihm sein Vater eine Nena-Kassette überspielt, die er täglich mindestens dreimal hörte. Doch das war noch nicht alles, denn das Größte war: Heike Seidel, das mit Abstand schönste Mädchen aus seiner Parallelklasse, hatte ihm ein buntes Briefchen geschickt, in dem sie in krakeligen Großbuchstaben anfragte, ob er MIT IHR GEHEN wolle. So war es nicht verwunderlich, dass sich der kleine Claudius Zorn zu den zufriedensten Menschen auf Erden zählte.
    Was auch der Tatsache geschuldet war, dass er über einen starken, schier unerschütterlichen Glauben verfügte. Die Zorns waren seit jeher katholisch gewesen, und auch seine Eltern gingen jeden Sonntag in die schmale Backsteinkirche, die in einer holprigen Nebenstraße in der Nähe des Stadtparks stand. Claudius war immer dabei, zuerst im Kinderwagen, später tippelte er – sorgfältig gekämmt, im frisch gebügelten Sonntagsanzug – an der Hand seiner Mutter zum Gottesdienst. Er mochte die Gesänge, die Ruhe, den Duft von Weihrauch und das Licht, das schräg durch die bunten Bleiglasfenster fiel und die Staubkörner im Innenraum der Kirche tanzen ließ. Selbst das unbeholfene Spiel der Organistin (sie war über siebzig, noch immer ledig und gleichzeitig Putzfrau im Gemeindehaus) konnte seine Freude nicht trüben.
    Gott war eine Tatsache. Er kannte es nicht anders, ging regelmäßig zur Beichte, wenngleich er nicht wusste, was genau unter einer Sünde zu verstehen war, schließlich hatte er kaum Gelegenheit, gegen die Zehn Gebote zu verstoßen (bis auf das neunte, wonach man nicht lügen durfte). Jeden Abend lag er brav in seinem Bett und betete (Lieber Gott, lass mich vor Mama und Papa sterben und mach, dass Heike Seidel meine Freundin wird) , und es gab nichts, was ihn hätte zweifeln lassen.
    Bis zum Mauerfall sollte es noch ein paar Jahre dauern. Zorns Eltern hielten nicht viel von diesem Staat, leisteten aber niemals offenen Widerstand. Sein Vater, der fünf Jahre später bei einem Verkehrsunfall in Polen ums Leben kommen sollte, drückte seinen Unmut gegen die kommunistischen Dünnbrettbohrer (wie er sie nannte) dadurch aus, dass er an staatlichen Feiertagen keine Flagge aus dem Fenster hängte – das war alles. Überdies schärfte er seinem Sohn ein, den Mund zu halten, und sorgte dafür, dass Claudius Zorn Mitglied in sämtlichen Jugendorganisationen wurde. So bekam der Junge niemals Probleme in der Schule. Im Gegenteil, er fühlte sich nicht ausgegrenzt, sondern eher als Teil einer heimlichen Elite.
    Alles war gut, bis zu diesem Sonntag im Frühling.
    Es geschah während des Familiengottesdiensts, die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Claudius Zorn war zum ersten Mal Ministrant. Und er war aufgeregt. Sie waren zu zweit, und sie mussten dem Vikar während der Messe assistieren, was bedeutete, dass sie zum richtigen Zeitpunkt aufstehen, sich hinsetzen oder niederknien mussten. Der Höhepunkt bestand darin, dem Vikar den Kelch mit Wein und das Gefäß mit den Hostien zum Altar zu bringen. Das klang komplizierter als es war, denn zum einen hatten sie vorher geübt, zum anderen war er nicht allein.
    »Tu einfach das, was ich mache«, hatte Gernot, der andere Messdiener, in wichtigem Ton gesagt. Er war zwei Jahre älter als Claudius, auf seinen Wangen blühten die ersten Aknespuren und er war bereits ein alter Hase im Ministrantengeschäft. »Es gibt zwei Dinge, auf die du aufpassen musst. Das erste habe ich dir

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